Das Erbe in den Highlands
er tief und fest schlief, drehte sie sich auf ihrem Stuhl zu ihm und gönnte sich das Vergnügen, ihn ausgiebig zu betrachten. Er war anders als alle Männer, die sie bisher gekannt hatte. Die meisten Männer, die sie im Laufe ihres Lebens kennengelernt hatte, waren entweder Waschlappen wie ihr Vater oder Tyrannen. Allerdings konnte sie nicht auf eine große Auswahl zurückgreifen. Kaum hatte sie auf dem College endlich begonnen, Verabredungen zu treffen, gab sie es auch schon wieder auf. Sie, die verträumte Gen Buchanan, hatte so viel Zeit ihres Lebens als Bücherwurm verbracht, dass sie feststellen musste, ihr fehlte sowohl das Geschick als auch die Lust, sich mit echten Männern abzugeben. Sich an die Männer in ihrer Phantasie zu halten, war viel ungefährlicher. Was nicht heißen sollte, dass sie keine männlichen Freunde gehabt hatte, doch die waren dünn gesät. Und keiner hatte in ihr je etwas anderes als eine Schwester gesehen.
Bis auf Kendrick. Falls er in ihr außer einer Nervensäge noch etwas anderes sah, dann bestimmt keine Schwester. Der Blick, mit dem er sie in der ganzen Pracht ihres Pyjamas betrachtet hatte, ließ ihr noch immer Hitze in die Wangen steigen. Den Blick kannte sie. Sie hatte ihn bei Männern in Filmen und bei einigen ihrer männlichen Freunde gesehen, wenn sie ihn begehrlich auf die Frau ihrer Wahl richteten. Aber noch nie war ein derartiger Blick auf sie gerichtet worden. Bis heute.
Sie hielt sich nicht für schön; daran verschwendete sie keinen Gedanken. Sie war gut in ihrem Beruf und konnte gut träumen. Im Laufe der Jahre hatte sie sich selbst überzeugt, das sei alles, was sie zum Überleben brauchte.
Und dann waren ihre Träume Wirklichkeit geworden. Sie war aus ihrem alltäglichen Leben in eine Welt gespült worden, in der alles anders war. Sie besaß eine Burg, schöner als Genevieve sie sich je erträumt hatte. Und sie hatte ihren Ritter. Seine Schroffheit hatte sie am Anfang genervt, doch allmählich begriff sie, dass einiges davon aus der verständlichen Verbitterung über seine Situation herrührte und manches nur Machotheater war. Kendrick war nicht so gefühllos, wie er sie glauben machen wollte.
Sie betrachtete ihn in aller Seelenruhe. Noch nie zuvor war sie einem Mann seiner Größe und seines Körperbaus begegnet. Seltsam, dass seine Statur und seine Männlichkeit sie nicht einschüchterten. Aber schlagartig wurde ihr klar, warum. Er war ein Gespenst, eine Person, die nur ein wenig greifbarer war als ihre Phantasien, aber nicht gegenständlich genug, um eine Bedrohung darzustellen. Genau das war die Art Mann, mit der sie umgehen konnte. Er war zwar arrogant und unmöglich, aber er hatte eine spitzbübische Art, die einfach umwerfend war. Und so, wie er sie ansah, schien er sie tatsächlich reizvoll zu finden. Begehrenswert wäre etwas zu hoch gegriffen, doch reizvoll, das konnte sie ihm abnehmen.
Ihr Blick fiel auf Kendricks Hand, die wenige Zentimeter von ihr entfernt auf der Armlehne lag, und ihr kam eine völlig verrückte Idee. Würde er es spüren, wenn sie ihn berührte? Würde sie ihn spüren?
Zaghaft legte sie ihre Hand auf seine. Ein ganz leichtes Prickeln, wie bei statisch aufgeladenen Geweben, war alles, was sie spürte. Ihre Hand ging durch die seine und ruhte auf der Armlehne. Genevieve war sprachlos. Kendricks Hand umgab die ihre wie eine Aura. Real und auch wieder nicht. Wenn es nun doch echt gewesen wäre? Sie lehnte den Kopf an die Rückenlehne, schloss die Augen und überließ sich ihren Träumereien. Das Jahrhundert spielte keine Rolle, sie hatte Kendrick, und das war alles, was ihr wichtig war.
Dreizehntes Jahrhundert vielleicht. Sie wäre die Lady of Seakirk, eine Waise, von widerlichen Freiern belagert, die nur ihr Land wollten und sich keinen Deut um sie selbst scherten. Im Augenblick höchster Bedrängnis wäre Kendrick auf seinem schwarzen Schlachtross auf den Hof geritten und hätte die Schurken mit einigen gut gezielten Hieben seines riesigen Breitschwerts in alle Winde zerstreut. Genevieve sah sich in dem Kleid, das er ihr erst vor ein paar Tagen im Garten gezeigt hatte, auf der Eingangstreppe stehen und geduldig darauf warten, dass er zu ihr kam. Er wäre auf sie zugeritten, nicht abgesessen, hätte mit diesem Herzensbrechergrinsen zu ihr hinuntergeschaut und so etwas gesagt wie: »Nachdem die Entengrütze jetzt beseitigt ist, Mylady, hättet Ihr nicht Lust, eine Runde zu schwimmen?«
Nein, so etwas würde Kendrick nicht sagen.
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