Das Erbstueck
sie ... eine unziemliche Liebe zu ihm hegte.«
»Und dann musste Josef ins Gefängnis, weil Potifar glaubte, er
sei an allem schuld«, sagte Mogens. »Dass der Kittel zerrissen war. An den Nähten. Du und Carlchen und Peter und Frederic, ihr würdet mich doch wohl nicht an einen Sklavenhändler verkaufen?«
Frode lehnte den Hinterkopf an die Wand. »In Paullund gibt es keine Sklavenhändler. Die wohnen weiter im Süden.«
»Und außerdem«, sagte Mogens, »glaube ich nicht, dass mein Vater mich am meisten liebt.«
»Doch, das tut er«, widersprach Frode. »Aber ich will auch gar nicht Pastor werden. Und außerdem liebt er Mutter am meisten. Oder vielleicht auch Gott.«
Frode streckte einen Fuß aus und zog mit dem Holzschuh eine Menge kleiner Steine zu sich heran. »Ich schaff es einfach nicht, mit Tinte schöne Buchstaben zu schreiben«, sagte er. »Mit Kohle geht das besser.«
»Wo ist Vater?«, fragte Mogens und stand auf.
»In der Kirche, mit Küster Sophus. Die schreiben sicher die Namen von allen Toten ins Kirchenbuch.«
»Komm«, sagte Mogens.
Bischof Boldt starrte sie ruhig von der Wand her an, als sie das Zimmer betraten. Die Bodenbretter knackten wie immer, an denselben Stellen wie immer. Trotzdem schlug ihnen bei diesem Geräusch das Herz bis in den Hals. Mogens ging zum Schreibtisch und zeigte darauf: »Das ist mein Fach, das sind meine Sachen.«
Er nahm sie andächtig heraus, zeigte Frode Madvigs Vornamen im Lateinbuch, legte die Bücher wieder zurück, nur das eine Schreibheft nicht. Er holte Tinte, Federhalter und die Schachtel mit Federn.
»Jetzt schreiben wir deinen Namen, mit gotischen Buchstaben« , flüsterte er.
Frode sagte kein Wort. Er schluckte und ließ Mogens’ Hände nicht aus den Augen. Mogens befestigte die Feder, öffnete das
Tintenfass und das Schreibheft und schrieb auf die hinterste Seite ein perfektes gotisches F.
»Jetzt kannst du ein kleines r schreiben.« Er reichte Frode die Feder.
Frode umklammerte den Federhalter. Mogens merkte, dass der Bruder nach Erde und Stoff roch, und dass die Holzschuhe einen süßen Geruch ausströmten. Er war sich des Augenblicks und der Einzelheiten so bewusst wie dann, wenn er aus einem ereignisreichen Traum erwachte, in der ersten Sekunde, nachdem die Handlung über ihn hereinbrach, und sein nächster Gedanke war, dass das bedeutete, dass er gut war, erfüllt von Liebe, wie sein Vater immer forderte. Er konnte sich für etwas unerwartet Schönes öffnen, für einen anderen Menschen.
»Siehst du die Farbe«, flüsterte er. »Siehst du, wie dick und blau die Farbe auf dem weißen Grund ist?«
Frode drückte, die Feder brach, kleine Tropfen spritzten über das Papier und über den Bogen und versickerten in der hölzernen Schreibtischplatte. Frode ließ den Federhalter los und trat zwei Schritte zurück, während Mogens versuchte, den Federhalter aufzufangen und dabei das Tintenfass umstieß. Die Tinte strömte wie schwarzes, entzündetes Blut über die Tischplatte und weiter zu den Büchern des Vaters, die an der Wand standen, Pontoppidans Katechismuserläuterungen und sein Gesangbuch und der Dänische Atlas und Paludan-Müllers Adam Homo und Cicero und Homer und Herodot und die dänische Kirchengeschichte in vier Bänden und die Schreibhefte des Vaters. Mogens merkte, wie seine Kehle sich zusammenschnürte. Der Hahnenkamm schwoll in seinem Hals an, dick und rot. Die Blutwülste rissen. Er keuchte und spuckte und schrie und glaubte, rote Blutstropfen aus seinem Hals spritzen zu sehen. Hinter ihm schlug die Tür. Er hörte seinen Bruder aus vollem Hals schreien, und Elise kam angerannt, doch er lag schon auf dem Boden und roch das Erbrochene. Und dann wurde alles schwarz, wie der Blick von Bischof Boldt.
Als er erwachte, lag er in seinem eigenen Bett, und sein Vater stand vor ihm. Die Mutter wäre ihm lieber gewesen. Rasch schloss er die Augen wieder und kostete seinen Atem aus. Der war sauber und frei. Das Beste wäre es, jetzt krank zu werden, sehr krank, sodass der Totengräber eine Grube für ihn aushöbe, nicht für die vielen Alten. Denn das hier war kein Traum. Hier kamen keine Bilder wie Geschenke aus dem Traum. Und die Bücher des Vaters! Die der Vater so sehr liebte! Vor allem das Buch mit den Karten, das Mogens bisher kaum gesehen hatte, und wenn, dann waren nur Dänemark und das Heilige Land aufgeschlagen worden.
Aber er bereute diesen Gedanken sofort, denn es war das Buch, das ihm am meisten fehlen würde. Für den
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