Das Erbstueck
Vater waren wohl die anderen wichtiger. Und wie sollte er jetzt die Konfirmanden unterrichten, wo seine eigenen Schreibhefte mit seinen Kommentaren ruiniert waren.
»Du kannst meine auch kaputtmachen«, flüsterte er, ohne die Augen zu öffnen.
»Deine was?«, fragte der Vater.
Mogens lauschte auf diese Worte, auf den Tonfall des Vaters, war der traurig oder streng? Verwirrt kam er zu dem Schluss, dass er keins von beiden war.
»Meine Bücher. Latein und Bibelgeschichte. Und alles, was ich geschrieben habe. Zur Strafe, wegen deiner Bücher.«
»Denen ist nichts passiert. Du kannst die Augen aufmachen. Nur ganz unten am Rand ist ein wenig Tinte eingezogen, aber man kann noch immer alles lesen. Die Tischplatte dagegen ist jetzt blau. Daran lässt sich nichts mehr ändern, und dein eines Schreibheft ist unbrauchbar. Was wolltest du eigentlich im Studierzimmer?«
»Frode Nicolai alles zeigen.«
»Schlaf jetzt.«
Er lag noch mehrere Stunden in dem warmen Schlafzimmer wach und betrachtete die Fliegen am Fenster, die vergeblich einen Ausgang suchten. Er zwang sich dazu, an Sklavenhändler und aus der Erde quellendes Feuer zu denken. Er hätte den Vater lieber wütend und deutlich erlebt, und noch lieber hätte er seine Mutter bei sich gehabt. Er konnte ihre Stimme nirgendwo hören, weder im Haus noch draußen. Er spuckte seine Finger an, legte sie auf die Augenlider und stellte sich vor, es seien frisch geputzte Fünförestücke, die seine Mutter dorthin gelegt hatte.
A ls er dann ein oder zwei Jahre älter war, begriff Mogens nach und nach, dass beim Wissenserwerb nicht von Lust oder Interesse die Rede war. Man suchte sich nicht die Dinge aus, die man spannend fand, um sich dann darin zu üben. Er saugte alles, was er nur konnte, aus den Höhepunkten heraus, in Form von spannenden Diskussionen zum Beispiel über die Weltkarte, wenn er den Vater zu längeren Vorträgen über fremde Länder und Entdecker bewegen konnte. Und er liebte das Schönschreiben. Dabei flog die Zeit nur so dahin. Aber die beiden Stunden wurden zuerst auf drei, dann auf vier ausgedehnt. Es waren vier oft sehr lange Stunden. Die letzte galt dem Selbststudium, er büffelte Latein.
Die Friesdecke war weggenommen worden. Er brauchte sie nicht mehr. Und er hatte sich daran gewöhnt, die von Tinte voll gesogene Tischplatte als Beweis für seine Unzulänglichkeit Gott gegenüber zu betrachten, sie hatten darüber geredet und auf diese Weise einen Zusammenhang hergestellt. Wie ein Jesus hatte der Vater ihm vergeben und ihm damit bewiesen, was Liebe war. Aber Mogens hätte lieber die Gefühle behalten, die ihn in dem Moment erfüllt hatten, als er einem großäugigen Frode die Feder in die Hand gedrückt hatte. Er wollte nicht sehen, dass es falsch gewesen war, aber das musste es doch sein, wo sein Vater sich solche Mühe gegeben hatte, ihm zu vergeben.
Er schaute oft zum Fenster hinüber, während der Vater redete. Er vertiefte sich in das Bild des Bischofs. Er horchte auf Stimmen. Ein einzelnes Kikeriki des geilen Hahns reichte, um ihn aus den langen Erörterungen seines Vaters herauszureißen.
»Und Distributive sind Adjektive mit drei Endungen nach der zweiten und ersten Deklination in ...«
Mogens musterte den Vater mit leerem Blick, wo waren sie jetzt?
»Nach der zweiten und ersten Deklination in ... was?«
»Singu ...«, sagte Mogens. »Nein, Plural.«
»Und sie heißen ... für sechs?«
»Seni.«
»Gut. Für zwölf?«
Er setzte sich gerade und überließ den geilen Hahn seinem eigenen Schicksal. »Duodeni.«
»Für dreihundert?«
»Moment«, sagte Mogens. Er musste in Gedanken zuerst die ganze Tabelle aufsagen, um zu dreihundert zu gelangen. »Treceni.«
»Gut. Und neunzehn?«
Jetzt musste er rückwärts zählen, was er aber nicht schaffte. Er fing wieder von vorne an.
»Viceni?«
»Nein«, sagte der Vater. »Das ist zwanzig. Neunzehn ist noveni deni. Oder man kann auch undeviceni sagen. Und vergiss nicht, dass ein c immer wie k ausgesprochen wird, wenn es nicht zwischen Selbstlauten steht. Und welche Art Fragewort gehört zu diesen Zahlen?«
»Ich .. ich weiß nicht, Vater. Etwas mit q.«
»Qvotëni. Also ... wie viele von jedem.«
»Ja«, sagte Mogens und schaute beschämt in sein Buch.
»Schreib«, sagte der Vater.
Mogens beeilte sich, griff zur Feder und tunkte sie ins Tintenfass.
»Cæsar et Ariovistus denos comites ad colloqium adduxerunt. Hier sehen wir, wie die Distributive benutzt werden, wenn eine bestimmte
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