Das Erbstueck
Anzahl für jede der erwähnten Personen bezeichnet wird.«
Mogens schrieb gern x. Es war ein wunderschöner symmetrischer Buchstabe, und im Lateinischen wimmelte es nur so davon.
»Und welches Distributiv wird hier verwendet, Mogens?«
»Mmm...«
»Deni! Für zehn! Cæsar et Ariovistus denos comites ad colloqium adduxerunt. Cäsar und Ariovist hatten zehn Begleiter. Schreib ... singuli homines, singuli cives. Was das bedeutet, weißt du ja immerhin.«
»Jeder Mensch und jeder ...«
Es wurde still im Raum. Viel zu lange.
»Nein«, sagte der Vater mit harter Stimme. »Der einzelne Mensch, der einzelne Bürger. Distributive sind Adjektive, Mogens!«
Wieder nahm er diese Furcht wahr: Alles, wovon der Vater sprach, konnte er unmöglich lernen, ohne sich auf die Bücher zu stützen. Latein. Und Griechisch. Warum musste er das alles lesen? Warum lasen sie das Neue Testament auf Griechisch, wo die dänische Ausgabe doch schon im Regal stand? Der Vater hatte erklärt, Latein und Griechisch stärkten das Gehirn:
»Disciplina sollerti fingitur ingenium. Der Geist wird durch kundige Belehrung gebildet. Das habe ich auf der Metropolitanschule in Kopenhagen als Erstes gelernt.«
Mogens hatte eher das Gefühl, dass sein Gehirn zerstört wurde und zerkrümelte. Der Vater konnte glühend davon schwärmen, wie sie mit Hilfe der römischen Dichter hier im kleinen Paullund sitzen und Wörter und Gedanken einer verschwundenen Mittelmeerkultur aussprechen und denken konnten.
»Aber es gibt sie nicht mehr? Nicht wirklich?«, konnte Mogens fragen.
»Nur Gott kann etwas Ewiges erschaffen. Aber wenn sie eine Moral gehabt hätten, die sie im Alltag und bei ihren Tätigkeiten hätten benutzen können, dann gäbe es das Römische Reich noch heute«, meinte der Vater.
»Könnten wir dann hinfahren?«
»Das könnten wir.«
Und dann machte diese Vorstellung gleich mehr Spaß. Für eine kleine Weile. Bis Ciceros Briefe auf die blau gefärbte Tischplatte gelegt wurden. Oder bis der Vater seinen Vergil oder seinen Ovid aufschlug und die Düfte eines gefallenen Reiches zu Mogens’ Nase vordrangen.
Die Mutter versuchte, es auf andere und handfestere Weise zu erklären:
»Latein ist eine wichtige Sprache. Es ist die Sprache der Kirche. In Kopenhagen können alle wichtigen Männer Latein.«
»Aber ich wohne in Paullund, Mutter.«
»Willst du Fischer werden?«
»Nein.«
»Willst du Bauer werden? Deinen eigenen Hof haben?«
Tja, einen eigenen Hof hätte er schon gern, mit eigenen Tieren, aber er wusste genau, wie viel Arbeit dazugehörte. Das sah er jeden Tag in den Gesichtern des Nährstandes.
»Nein.«
»Was willst du dann?«
»Ich will ... schreiben. Ich schreibe gern Buchstaben.«
»Aber die Buchstaben müssen doch etwas bedeuten. Dort muss etwas stehen, Mogens.«
»Das Geräusch der Feder ist so schön. Und die Farbe! Schau mal!«
Er lachte laut und zeigte ihr einen Tintenklecks an seinem Mittelfinger.
»Mogens! Hör gut zu! Das ist kindisch. Es war lustig, als du noch klein warst und alles neu und spannend war. Du bist ein kluger Junge, du kannst das, wenn du willst. Du darfst deinen Vater nicht enttäuschen.«
»Biblische Geschichte kann witzig sein ... auf Dänisch.«
Birchs kleine Gekürzte war ein überwundenes Stadium. Jetzt benutzten sie die eigentliche Bibel. Die Geschichten waren komplex und kompliziert, und Mogens hätte am liebsten nur im Alten Testament gelesen. Dort fand er die klaren, bunten und verständlichen Geschichten. Aber jetzt studierten sie das Evangelium des Johannes nach der dänischen Ausgabe. Mogens fand es unerträglich langweilig. Aber ab und zu konnte er seine Fragen auf das Alte Testament richten, und dann flog die Zeit nur so dahin. Er sehnte sich zurück nach dem ungehorsamen Absalon, nach David, nach Salomo dem Weisen.
»Witzig?«, wiederholte die Mutter.
»Die Geschichten im Alten.«
»Aber nicht die im Neuen?«
»Nein, da passiert ja nicht so viel.«
»Wenn dein Vater dich gehört hätte ...«
Er wandte sich ab, gab keine Antwort. Zum ersten Mal fühlte er sich weit fort von der Mutter. Er sah in ihr seine eigene Furcht, vor allem, was er nicht lernen konnte, weil es ihn nicht wirklich interessierte. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. Das alles hatte doch weder Sinn noch Verstand, und es passierte rein gar
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