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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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nichts. Die Leute im Neuen Testament fragten einander, wer sie waren, und sie redeten und antworteten ununterbrochen, und Jesus sprach zu allen, wiederholte die selbstverständlichsten Gemeinplätze, über Nächstenliebe und Verständnis, über Vergebung, über Vertrauen zu denen, die eigentlich gar nicht vertrauenswürdig waren, wieder und wieder. Und wozu brauchte man diese unterschiedlichen
Evangelien, nur um zu beweisen, wie wahr Jesu Leben war? Mogens hätte sich durchaus mit einem einzigen zufrieden gegeben und auf der Stelle jedes Wort als Wahrheit akzeptiert, nur um Zeit zu sparen.
    »Es ist eine Frage des Willens, Mogens. Du bist neun Jahre alt und ein großer Junge. Willst du nicht Pastor werden, so wie dein Vater?«
    »Doch, meine Mutter.« Er fügte diesen Worten ein energisches Nicken hinzu, und deshalb musste sie ihm glauben.
    »Dann musst du Latein lernen. Und Griechisch.«

    Was stimmte nicht mit ihm? Er war offenbar nur glücklich, wenn er sich in Schönes vertiefen konnte; und das hatte bei den anderen in Paullund nichts zu suchen, es hatte auch beim Unterricht des Vaters nichts zu suchen. Der Gesang in der Kirche machte ihn glücklich, und der Himmel und das Meer und die Schwanenscharen und die Muscheln und die Blumen auf der Heide, auch wenn er sie immer seltener zusammen mit der Mutter erlebte. Er ging allein los. Bilder und Zeichnungen und Schönschreiben schenkten ihm intensive Glücksmomente, und Latein war wirklich das Beste, mit seinen vielen os und cs und xen. Centurio, was für ein schönes Wort, es war fast das schönste, das er kannte. Und Socrates exsecrari eum solebat. Die Feder flog nur so übers Papier und hätte sicher sogar dann geschrieben, wenn er sie nicht gehalten hätte.

    »Nominativ Singular.«
    »Is, ea, id.«
    »Akkusativ.«
    »Eum, eam.«
    »Genitiv?«
    »Ej - us.«
    »Ja, Mogens. Ejus in allen Geschlechtern. Aber was ist mit dem Genitiv Plural?«

    »Eorum, earum, e ...«
    »Eorum. Gut. Schlag Seite 102 auf. Auf den folgenden Seiten findest du die Tempusbildung und die Beugung von Personen und Zahlen in jedem Tempus in den vier Konjugationen, mit amo von der ersten, moneo von der anderen, scribo von der dritten, audio von der vierten. Siehst du?«
    Mogens sah.
    »Das musst du auswendig lernen. Dafür kannst du hier sitzen. Und alles abschreiben. Deine Hand wird dir helfen, dich zu erinnern.«

    Draußen regnete es, ein schräg fallender grauer Regen von der Nordsee her, mit kleinen spitzen Sandmessern. Er beneidete alle, die draußen waren. Die stummen Tiere. Die gekrümmten Menschen auf den Feldern. Die Fischer, die sich am Strand mit ihren Netzen abmühten. Ja, er wäre lieber ein schlichter, platt gepeitschter Strandhafer am Dünenrand gewesen, statt hier zu sitzen. Oder ein armer Wollhöker, immer unterwegs, mit Nähnadeln und billigen Drucken in einer Tasche, die er gegen alte Lumpen, ein wenig Essen und ein Dach über dem Kopf eintauschte. Er hätte es sogar der Mutter nachtun mögen - und Alte und Kranke besuchen. Ja, er würde sie gern begleiten und in Essig getunkte Zwiebelstücke um die Hühneraugen der alten Frauen binden, wenn er sich nur nicht mehr mit diesem Madvig quälen müsste. Wie sollte seine arme kleine Hand ihm dabei helfen, sich an das alles zu erinnern?
    Er hörte, wie Elise einem Bruder etwas zurief. Er musste an das Loch in ihrem Kopf denken, wie gern er das gesehen hätte. Er betrachtete die goldene Kette um den Hals des Bischofs. Er strich über das blaue Holz. Er tunkte die Feder mehrere Male ins Tintenfass und ließ die Tinte hinein zurücklaufen, ehe er anfing: amo, moneo, scribo, audio, ich liebe, ich mahne, ich schreibe, ich höre, amas, mones, scribis, audis, du liebst, du mahnst, du schreibst, du hörst. Weiter kam er nicht, denn nun streckte seine
Hand sich gleichsam von selbst aus und zog den Atlas zu ihm heran. Der blaue Tintenrand ganz unten hatte die Karten wirklich nicht zerstört. Nein, er sah eher aus wie eine gestickte Borte, die schon immer dort gewesen war. Und der arme Atlas, der das Himmelsgewölbe auf seinen ausgestreckten Händen tragen musste, als Strafe dafür, dass er sich am Kampf der Titanen gegen die Götter beteiligt hatte. Das alles hatte doch mehr Saft als ein Indikativ Präsens Singular.
    Mogens blätterte in der Welt hin und her und schaute am Ende sehnsuchtsvoll Kopenhagen an. Die Stadt war ein kleiner Punkt, in den eine winzig kleine Kirche und eine Königskrone eingezeichnet waren. Er schloss das Buch mit

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