Das Erbstueck
in Behagen und Unbehagen, in Tag und Nacht, in Anwesenheit und Abwesenheit, in Freizeit und Pflicht. Aber von Leben und Tod hatte er keine persönliche Vorstellung. Das änderte sich erst, als er in der Ferne seine Mutter schreien hörte, und als Elise die Messer losließ und die Hände in die Schürze schob, und als sie dann einen Schrei ausstieß, wie Frauen das tun, wenn sie dem Schrei einer anderen anhören können, dass etwas wirklich Entsetzliches passiert ist.
Zwei Männer brachten Carlchen zwischen sich. Seine Lippen waren blau. Er bewegte sich nicht. Aus seinen Haaren strömte Wasser. Er hatte rosa Schaum am Kinn und in den Mundwinkeln und hatte beide Schuhe verloren. Die Mutter und Peter riefen den Vater und schrien, Carlchen sei tot.
Der Vater kam ohne Hemd und mit zerzausten Haaren aus dem Schlafzimmer. Das war fast das Schlimmste, ihn so zu sehen. Dann stimmte überhaupt nichts mehr, dann war die Welt für immer in Stücke gegangen, und man hatte erfahren müssen, wie ein plötzlicher Tod sich in die Normalität hineinbohrt, jenseits von menschlicher Würde und den üblichen Verhaltensregeln. Mogens glitt lautlos an der Wand zu Boden, während der Vater vor dem Jungen auf die Knie fiel, diesem Jungen, der kein Kind mehr war, sondern ein junger, kräftiger Mann von siebzehn Jahren, ein lebhafter und geselliger junger Mann, ein tüchtiger Fischer, der für ein eigenes Boot sparte und deshalb abends für andere Netze flickte und andere Arbeiten erledigte.
Mogens lauschte den Worten, die gerufen wurden. Alle riefen,
obwohl sie in dieser einen Kammer zusammen waren. Sie riefen, er sei mit dem Netzblei untergegangen, in einem harmlosen Gebiet mit regelmäßigen Wellen habe sich ein Seil um seinen Fuß gewickelt. Sie hatten vielleicht zehn Minuten gebraucht, um ihn hochzuholen. Und da war es schon zu spät gewesen. Sie hatten ihm in den Rücken gehämmert und ihn auf den Kopf gestellt, aber ihm war kein Lebenszeichen mehr zu entlocken gewesen.
Die Mutter kniete neben dem Vater und warf den Kopf hin und her, als sei der zu schwer für ihren Hals. Der Vater hatte beide Hände um den Kopf des Jungen gelegt und murmelte einen Wortstrom, den sonst niemand verstand. Überall auf dem Boden war es nass, durch die Stiefel, durch den toten Bruder, durch die Tränen. Mogens weinte nicht. Er atmete nur ein und aus und versuchte, nicht darauf zu achten, wie eng seine Kehle jetzt war. Er kannte diese Menschen nicht, nicht den Vater, nicht die Mutter. Sie waren fremd. Und Carlchen lag dort und war es doch nicht.
»Jetzt ist unser Sohn bei Gott dem Vater«, hörte er seinen Vater endlich sagen, mit tonloser, nicht zu erkennender Stimme. Es war für die Verhältnisse des Vaters eine kurze Mitteilung, und deshalb fügte er noch hinzu: »Gott hat ihn zu sich genommen, Christina, es war Sein Wille und Sein Recht.«
»Nein, nein, nein«, flüsterte sie.
»Doch«, sagte der Vater und stand auf.
Mogens ging ebenfalls, als die Fischer sich zurückzogen. Niemand merkte, dass er das Haus verließ. Er wusste, dass Carlchen mit einem Mädchen zusammen gewesen war. Frode kannte sich aus. Er hätte gern gewusst, was es für ein Gefühl gewesen war, Carlchen zu sein. Jeden Tag aufzustehen und er zu sein. Sich auf das Fischen zu freuen oder sich davor zu grauen, je nach Wind und Wetter. Sich in Gedanken hinter diesem Gesicht zu befinden, das Carlchen war, dieses Gesicht zu besitzen, sich auf dieses Mädchen zu freuen, dessen Namen nicht einmal Frode kannte, und dann plötzlich nicht mehr da zu sein. Gott hatte ihn getötet.
Und damit gewartet, bis Carlchen siebzehn geworden war. Dann hatte Er unerwartet zugeschlagen, bei schönem Wetter, als niemand sich um die Menschen auf See Sorgen machte und deshalb auch nicht für sie betete. Mogens konnte nicht fassen, was Carlchen verbrochen haben mochte. Hatte er gegen die Gebote versto ßen? Nein. Er nickte sonntags in der Kirche manchmal ein, sollte das die Strafe sein? Nein, denn dann würde fast ganz Paullund im Meer versinken.
Mogens tappte blind zur Heide hoch und schwor, von nun an nie mehr zu Gott zu beten. Und wenn er Gott vergaß, dann konnte Gott auch ihn vergessen und ihn in Ruhe lassen. Auch dann, wenn er ein junger Mann von siebzehn Jahren war, der vielleicht sparte, um sich ins Erwachsenenleben einkaufen und zusammen mit einer Frau in einem breiten Bett liegen zu können.
Die Heide war fast abgeblüht. Er setzte sich auf ein Büschel Heidekraut. Das knirschte trocken unter
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