Das Erbstueck
dem Seufzer eines zu Tode Verurteilten, stellte es zurück und schrieb: amat, monet, scribit, audit, er/sie/es liebt, mahnt, schreibt, hört.
Die Schrift wurde fein und gleichmäßig, es waren schöne Wörter, und bald würde eine Stunde vorüber sein. Die Uhr an der Wand tickte ihn vorwärts. Wenn er nicht auf das Ticken achtete, ging die Zeit schneller. Die Kunst lag darin, dieses Ger äusch am Rand des Bewusstseins anzusiedeln. Wenn er aktiv horchte, wurde das Ticken immer langsamer, bis die Zeit dann ganz anhielt und das Pendel stillstand, wie in geronnenem Fett, und er hier drinnen gefangen war, wie ein Atlas, der für alle Zeit die Weltkugel in den Händen tragen musste.
M ogens war nun schon zwölf Jahre, es war später Herbst, er schaute den Mädchen hinterher, von einem Tag auf den anderen war ihm aufgegangen, mit welcher Begeisterung er sie ansah, aber seine Mutter war doch die Beste. Er hätte sie gern häufiger berührt, sah aber ein, dass er zu alt dafür war. Es war lange her, dass sie ihn in die Arme genommen und mit ihm hinaus in die Heide gelaufen war, während der Wind ihre goldenen Haare aus ihrem Nackenknoten befreite. Sie fehlte ihm, er träumte von ihr. Wenn sie ihn abends an sich drückte, wollte er sie fast nicht loslassen. Der Duft ihres Nackens ließ ihn einen süßen Geschmack verspüren. Er wurde verlegen, wenn ihr Busen ihn berührte, wenn sie ihm die Haare schnitt. Es machte ihn glücklich, im heißen Sommer ihre nackten Knöchel zu sehen. Er hätte sie gern um die Taille gefasst und sie innig an sich gezogen. Er war erleichtert, weil sie nach seiner Geburt keine weiteren Kinder bekommen hatte, wusste aber nicht, warum.
Sie war noch immer jung. Die Falten in ihrem Gesicht waren durchaus nicht hässlich. Sie schienen auf die Haut gezeichnet worden zu sein, ganz bewusst gezeichnet. Und ihre Augen waren so klar und munter wie damals, als sie in jedem freien Moment ihre Lebensfreude geteilt hatten. Und sie hatte doch den Vater, um noch mehr Kinder zu machen. Seltsam, dass sie das nicht taten. Sie schliefen zusammen in dem breitesten, größten Bett, und es passierte ja nachts, dass man beschloss, ein Kind zu
bekommen. Das wusste er immerhin. Frode hatte ihm allerlei Details über die Entstehung von Kindern mitgeteilt, aber darauf achtete er nicht, seine Mutter war nicht so. Die Mädchen dagegen tauchten immer häufiger in seinen Gedanken auf, vor allem Adeline und Jakobine, die Schwestern auf Hof Abelsbæsk. Er begriff nicht, warum sie sich so aufführten. Wenn sie ihn entdeckten, dann lachten sie nur und rannten davon, und er konnte ihre Beine sehen, die zum Vorschein kamen, wenn beim Laufen die Röcke wirbelten. Sie waren wie Vögel, es war unmöglich, dicht an sie heranzukommen. Und er wollte so gern dicht an sie heran. Er begriff immerhin, dass sie Frauen wie seine Mutter waren, nur in kleinerer Ausgabe, und er hätte gern an ihnen gerochen, sie berührt, sie gekostet.
»Musst du nicht Griechisch lesen?«, fragte Elise, als er sich zu ihr in die Küche gesetzt hatte.
»Hab ich schon.«
»Kannst du es jetzt?«
»Nein. Wo ist meine Mutter?«
»Im Hafen. Die Boote kommen herein. Deine Mutter wollte ein wenig frischen Fisch mitgebracht haben.«
Dann würden auch Carlchen und Peter kommen, wenn sie die Netze ausgebreitet hatten. Auch Peter fuhr jetzt jeden Tag zum Fischen hinaus, mit demselben Boot wie Carlchen.
Elise reinigte Messer und Gabeln in einer Mischung aus Asche und Lauge, um den Gestank von eingelegtem Hering und Zwiebeln zu entfernen. Es war kühl und halb dunkel in der Küche. Er dachte an Mädchen und frisch gefangenen Fisch und an Herodots unerträgliche lange griechische Sätze, die in seinem Kopf turmhoch aufragten. Er würde sich bis an den Rest seines Lebens an die Stimmung in diesem Moment erinnern, an jede Einzelheit; welche Kleidung er trug, was er unmittelbar davor gedacht hatte, wie Elises Hände sich emsig an den blanken Messerklingen zu schaffen machten. Denn es war der Tag, an dem er
lernte, dass Unschuld ein unfassbarer Begriff ist, bis zu dem Moment, in dem man sie für immer verliert. Diese Unschuld bestand in dem Glauben, dass man, wenn man nur einen Fuß vor den anderen setzte und die Welt auf ehrliche Weise durchwanderte, nur das Böse erleben würde, das man ohnehin erwarten musste, zum Beispiel Strafarbeiten oder Unwetter oder Magenschmerzen oder zu trockene Graubrotstücke in saurer Milch. Mogens hatte die Welt im Griff. Das Leben war eingeteilt
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