Das Erbstueck
ihm. Er musste an die fünfzehnhundert Menschen denken, die im Frühjahr mit dem Ozeanriesen untergegangen waren, mit der Titanic. Fünfzehnhundert. Der Vater hatte ihnen das aus der Zeitung vorgelesen, es war eine entsetzliche Geschichte, eben weil sie alle ertrunken waren, der große Albtraum eines Fischerdorfes. Aber trotzdem - es war nur eine Geschichte gewesen, ebenso unbegreiflich wie der Untergang Sodoms. Jetzt aber dachte er: fünfzehnhundert. Tausend Menschen und dann noch einmal fünfhundert. Ein Mensch, und dann noch eintausendvierhundertundneunundneunzig Menschen. Die eine ebenso große Leere hinterließen wie Carlchen – war das möglich? Dass es eben so war? Dass jeder Tod eines Menschen in jedem einzelnen Fall ebenso unbegreiflich war wie der von Carlchen?
P robst Herlovsen kam aus Malding herüber, um Carlchen vier Tage darauf zur letzten Ruhe zu betten. Niemand konnte verlangen, dass Probst Thygesen das übernahm. Die Leiche lag jede Nacht mit blank geputzten Fünförestücken auf den Augen auf dem Stroh der Schlafkammer, und jemand hielt Wache, damit das Böse sich nicht in ihm niederlassen konnte. Christina saß zwei Nächte bei ihm, dann Elise, und der Küster Sophus und der Vater. Dem Vater gefiel das mit den Fünförestücken nicht, er erhob jedoch keinen Einspruch.
»Aber in der Nacht, in der er gewacht hat, hat er sie weggenommen, als er mit dem Jungen geredet hat«, flüsterte Elise mit geschwollenen Augen und straff gebundenem Kopftuch, es saß jetzt straffer denn je.
Mogens, Frode, Peter und Frederic schliefen nachts zusammen in einem Zimmer. Sie horchten auf Weinen und Gebete und Dörrfisch, der gegen die Hauswand schlug, und auf das Meer, das mit weit aufgerissenem, gierigem Schlund gegen die Dünen anrannte, ohne Reue oder Selbstkritik.
Mogens wagte nicht, sich der Mutter zu nähern. Ihre Trauer war unheimlich und brachte ihn dazu, sie zu hassen. Sie machte ihm eine Gänsehaut. Die Mutter wurde hässlich. Ihre Wangenknochen ragten rot hervor, wie die Kiemen eines Fisches. Ihre Augen waren Löcher in ihrem Kopf. Ihre Hände sahen aus wie
Krallen. Sie wusch sich nicht und stank nach harschem Schweiß. Mogens fragte sich zuerst, wie sie wohl ausgesehen hätte, wenn er gestorben wäre. Er, den sie von allen Söhnen am meisten liebte. Es versetzte ihm einen Stich, als sie Carlchen meinen geliebten erstgeborenen Sohn nannte. Er empfand eine brennende Eifersucht und wurde von Schuldgefühlen gequält, weil er so empfand. Es war gut, dass er Gott den Rücken gekehrt hatte. Man konnte sich ja nur vage vorstellen, welche Strafe Gott für einen Jungen in petto hatte, der auf einen ertrunkenen Bruder eifersüchtig war.
Probst Thygesen öffnete die Bibel und schrieb, ehe sie in die Kirche gingen, das Todesdatum hinter Carl Markus’ Namen, gefolgt von einem dünnen Kreuz. Er hatte diese Eintragung vier Tage vor sich hergeschoben. Er wusste nicht, worauf er hoffte, aber sein Glaube raubte ihm, zusammen mit dem Schock, die Fähigkeit, rational über das Irrationale nachzudenken, darüber, dass man glauben sollte, ohne zu sehen. Er hatte die Bibel bei sich, nahm die Schwere des Buches wahr und begriff nicht, wie er es schaffte, Christina eine Stütze zu sein, während er doch zugleich das Gewicht dieser tausend Buchseiten trug. Aber dann hatten sie die Kirche erreicht, und er hatte es geschafft. Er wusste, was jetzt kam, jedes Wort: Das hier war ein Tag des Glücks, denn eine Menschenseele wurde in jubelndem Lobgesang mit ihrem Gott vereint.
Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Das verrieten ihm die vielen Geräusche. Die Luft war gesättigt von Atem und Blicken und gefalteten Händen. Er starrte seine Schuhspitzen an und konzentrierte sich auf den Druck von Christinas Arm in seinem. Sie setzten sich nach ganz vorn, während Elise die Jungen neben ihnen unterbrachte. Als er die Kirchenbank unter sich spürte, versank er im Gebet. Er selber brachte Carlchen in den Himmel. Er trug ihn auf seinen Armen. So hatte er ihn nach seiner Geburt in Empfang genommen, an dem Tag, an dem seine
Sol die eigentliche Zukunft in einem in kostbaren Damast und bäurisches Leinen gewickelten Bündel geboren hatte. Er hob seinen Jungen hoch, seinen geliebten kleinen Jungen, der auf so schöne Weise konfirmiert worden war und sein Taufgel öbnis erneuert hatte, jetzt übergab er ihn in die Obhut des Herrn. Er gab seinen Jungen her. Nimm ihn, liebe ihn, schenke ihm das ewige Leben, er ist ein guter Junge,
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