Das Erbstueck
sinken und schaute zu Ælle hinunter, der sein Hühnerbein schon fast verzehrt hatte. Ælle ließ die ganze Aufregung kalt. Er trug noch immer seinen Isabellenhut, der Tüllschleier wippte sorglos auf und ab, im Takt seiner Kiefer.
Trupp Sule verfügte über ein reiches Repertoire, und als echte Schauspieler konnten sie sich der Stimmung im Publikum anpassen. In der Jebseschenke wurden an diesem Abend lediglich
Bruchstücke serviert. Der Einzige, der zu Ende sprechen durfte und bei dem einige wirklich zufrieden nickten, als habe er etwas Neues gebracht, war Rüben, als er endlich die Arena betrat. Er war achtzehn und hatte schon drei Bier durch seine Kehle pressen können.
»Was haltet ihr von den feinen Leuten aus Kopenhagen?«, rief er, stemmte die Hände in die Seiten und ließ seinen Blick durch das Lokal schweifen.
»Die sind doch allesamt Arschlöcher!«, riefen alle im Chor.
»Ja, sie kennen ihren Platz auf Erden«, sagte Rüben. »Und im Himmel auch«, fügte er hinzu. »Bilden sie sich ein«, endete er dann, was neues Lachen hervorrief. Auch Alfred lachte, und Malie musste für einen Moment an die Frauen in der Holmensgade denken. Die waren keine Leute aus Kopenhagen. Diese Bezeichnung kam denen zu, die sich am helllichten Tag in der Stadt aufhielten, die Arm in Arm die Søerne entlanggingen, ohne irgendeinen Flecken auf ihrem Gewissen oder ihren Lackschuhen.
Anfangs wechselte Malie mit Rüben kein Wort. Sie trug ihren Zopf in die Küche und überraschte die Mutter damit, dass sie sich sofort emsig an die Arbeit machte, während sie immer wieder in die Schankstube hinauslugte, um festzustellen, wo er stand, ging oder saß. Sie glaubte, niemals mit ihm sprechen zu können. Sie würde sterben. Das Blut würde ihren Kopf füllen und aus ihren Ohren strömen. Sie würde in Ohnmacht fallen, wie nach einem Pferdetritt, sie würde gehäutet werden wie ein Goldaal, sie würde sich in Krämpfen auf dem Boden winden. Ihr fiel dauernd etwas auf den Fliesenboden, Kartoffeln, ein Messer, ein ganzer Kessel voll Wasser. Aber als sie dann auftraten, zog die Mutter sie mit hinaus zu den anderen. Als Erstes sah und hörte sie Onkel Dreas, der sich wie immer am Tisch festhielt und schrie: »Jetzt wirkt der Zauber. Die magische Kraft des Bieres! Das hier hat mehr Malz als üblich, und das gefällt mir gar sehr. Jetzt fängt das Bacchanal an, da laus mich doch der Teufel!«
Danach blieb sie halb hinter der Mutter stehen und sah zu, wie Trupp Sule ins Zentrum der Ereignisse einmarschierte. Sie musste über Ælle und über Fitsens pompös erhobenen Zeigefinger lachen. Rubens’ dunkle Haare fielen ihm in die Stirn. Sein Hemd war weiß, unter einer kurzen gesprenkelten Weste mit Silberknöpfen und Schnallen. Seine Hose war dunkel. Seine Schuhe waren aus dunklem Leder, mit flachem Absatz, man konnte vorn die Zehen wie schmale Wülste sehen. Er war so groß wie sein Vater. Sie hätte gern gewusst, wie er roch, aber sie musste sofort an etwas anderes denken, denn ihr strömten die Tränen aus den Augen, und sie konnte ihn nicht mehr ansehen.
»Und ich kam nach Kopenhagen«, sagte er jetzt, »vom Lande, zum ersten Mal, ich kam vom hohen Himmel und den Meereswellen und dem Rauschen des Korns und von Menschen, die meine Gedanken kannten, noch ehe ich sie gedacht hatte, und was musste ich sehen?«
In einem lautlosen Sprung setzte er sich auf den Tresen, Malie kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf, sie leckte sich salzigen Schweiß von der Oberlippe, wagte einen Moment zu genießen, dass ihr Unterleib im Takt des Pulses pochte, den sie in den Ohrläppchen spürte. Sie hätte umfallen und sterben mögen, ja, für ihn wäre sie in diesem Moment gern verblutet. Er fing an zu deklamieren, aber ohne theatralisch erhobenen Zeigefinger. Stattdessen hatte er die Hände wieder in die Hüften gestemmt und schwenkte sie im Takt seiner Worte. Er sprach so, als habe er den Text selber geschrieben, als spräche er sein Publikum direkt an, als seien ihm diese Gedanken gerade gekommen. In der Jebseschenke herrschte eine atemlose Stille, sogar Ælle legte im Kauen eine Pause ein:
»Dies emsige Gewimmel auf den Trottoirs, diese langen Reihen der Elektrischen, die von dannen sausten wie ganze Eisenbahnz üge, mit schwefelblauen Funken unter den Rädern, dieser Schwarm von Fahrzeugen, die schnurrend wie rotäugige Riesenk äfer durcheinander schwirrten, dieser Lärm der Hupen und das
Läuten der Glocken, wie auf einem Marktplatze -
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