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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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wusste sie, was es für ein Gefühl war zu sterben.

    Sie ging mit ihm hinunter zur Kirche. Ihre Knie waren kleine Kugeln, Kieselsteine, die in alle Richtungen davonkullerten.
    »Nicht gehen«, sagte sie, »nicht schlafen.«
    »Ich muss nur meinem Vati erzählen, dass ich noch lebe«, sagte er.
    Sie wartete, während er die beiden Stufen hochstieg und im Wohnwagen verschwand. Dann weinte sie wieder. Er war verschwunden. Trupp Sules zwei Pferde standen schlafend vor ihr. Sie konzentrierte sich auf diesen Anblick und achtete nicht auf den Wohnwagen mit seiner Tür. Sie schliefen unter einer niedrigen Weide, Seite an Seite, an den Stamm gebunden, mit einer Wassertonne in Reichweite. Das eine Pferd hatte einen längeren Schwanz als das andere. Sie waren beide dunkel und groß, fast so groß wie Brauereigäule. Ihre Geschlechtsorgane hingen wie gefüllte Lederbeutel unter ihnen. Ihre Hufe waren von dicken Fellbüscheln bedeckt, und nun kam er, katzenweich sprang er vom Wagen und zog die Tür hinter sich zu. Die war rot, und in einer helleren Farbe, vermutlich Gelb, waren Blumen aufgemalt, aber das war in der Dunkelheit nur schwer zu sehen. Er hatte die
Weste im Wagen gelassen. Er machte sich sicher Sorgen darum, so fesch wie die war.
    Sie legten sich ins Gras, und er fing an zu reden. Sie öffnete ihr Mieder. Er schmiegte sein Gesicht an ihre eine Brust, umschloss sie mit der Hand, eine Vertraulichkeit, als hätten sie einander schon gekannt, als das Meer zum Land geworden war.
    »Sprich mit mir«, sagte Malie. »Erzähl mir alles, ich will alles hören.«
    »Na ja, alles ... worüber denn?«
    »Über dein Leben ... Rüben.«
    Es tat gut, seinen Namen auszusprechen. Er schmeckte wie ein Mund voll frisches Brot. »Deine Mutter ist tot? Wie war sie?«
    »Mutti hat in der Ziegelei Steine getrennt, sie hatte mich und Fits bei sich. Immer. Sie steckte einen Daumen in einen Stein und schob die beiden Hälften auseinander. Vati bekam siebzig Öre am Tag, er nahm jede Arbeit, die er finden konnte, Mutti bekam zwanzig, wir waren sehr arm. Sehr arm, Malie ... als ich fünf Jahre alt war, gingen wir in die Moore, zum Torfstich. Ich half dabei, den Torf aufzustapeln und umzudrehen. Wenn wir ins Moor gingen, hatten wir zwei Ziegen bei uns, die sollten dort grasen, und ab und zu hatte Mutti Äpfel, und die schälte sie im Gehen, und die Ziegen bekamen die Schalen und wir die Äpfel. Fits lag im Wagen, Mutti stieß den Wagen mit dem Bauch an, während sie schälte, und ich hielt den Wagen fest, wenn Huckel im Weg waren. Wir angelten auch, und wenn Mutti mittags ausruhen wollte, nahm sie die Holzschuhe als Kopfkissen. Sie legte die Spitzen aneinander ...«
    »Sie hätte den Kopf doch auch auf den Torf legen können?«
    »Sie nahm die Holzschuhe, das weiß ich noch genau. Und dann machten wir Kartoffeln aus und bekamen zwei Öre pro Eimer. Wenn wir einen Eimer voll hatten, legten wir eine Kartoffel beiseite, und auf diese Weise wussten wir immer, wie viele volle Eimer es gewesen waren. Fits stand die ganze Zeit im Weg, die ganze Zeit ... Und dann kamen wir in die Torffabrik Skovgaard,
das war besser, Vati war auch da, er zerkleinerte abends bei anderen Kies und half tagsüber im Torfstich. Wir konnten ein Häuschen leihen, und wir bekamen für den ganzen Sommer dreihundert Kronen Lohn, wenn wir alle drei arbeiteten, ich war sechs, Fits war drei und wie gesagt immer im Weg, aber dann war auch Muttis Bauch im Weg, und dann ist sie gestorben.«
    Sie streichelte sein Gesicht, von der Schläfe bis zur Kinnspitze.
    »Das ist lange her.«
    »Eigentlich nicht«, sagte er und schloss an ihrer Brust die Augen. »Mir kommt es vor wie gestern.«
    »Aber dann seid ihr einfach losgezogen ...«
    »Vati hat immer gelesen. Einmal bekam er als Lohn ein Buch, kein Geld, er hatte das selber so gewollt. Mutti warf das Buch nach ihm, als er damit nach Hause kam, und fragte, ob es gekocht oder gebraten oder roh verzehrt werden sollte. Sie sprachen Deutsch, Vati ist ein halber Deutscher. Wir können diese Sprache auch, wir drei Jungen. Sie erinnert mich an Mutti. Vater hat immer Deutsch mit ihr gesprochen, wenn er sie in den Arm nahm und ihre Haare streichelte. Oder wenn er wütend oder verzweifelt war. Und es lohnt sich, es zu können, wenn wir im Süden unterwegs sind.«
    »Wie könnt ihr euch die Pferde leisten? Die sind schön.«
    »Vater hat die Pferde von einem Kaufmann, dessen einzige Tochter in Hedebæk fast im Moor ertrunken wäre, sie steckte schon bis

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