Das Erbstueck
waren vom Waldboden zerzaust, ihr Mieder schloss sich nicht sonderlich züchtig um ihre Taille. Sie lief durch die Schankstube, um ein Teil der Dunkelheit zu werden, ohne seinen Blick loszulassen. Dieser Blick war intensiv und flammend, als wohnten in seiner Iris kleine gelbe Blitze, scharfe Zacken, die sich in das viele Grün bohrten. Und es war dieser Augenblick, für den sie ihn immer lieben würde, wenn er später dicht bei ihr lag und von seiner Kindheit und seiner Mutter erzählte. Sie sah sein Gesicht so wie beim ersten Mal. Dieses Gesicht schwebte durch die Wörter, die er benutzte, wenn er erzählte, durch seine Art, diese Wörter auszusprechen. Kleine viereckige Wörter, denen der Schwanz abgeschnitten worden war, einem nach dem anderen, wie ein Halsband aus unebenen durchlöcherten Glückssteinen, wie sie am Strand zu finden waren.
Sie packte ihren Zopf mit der Hand, hob ihn ein wenig hoch, wie ein lebendiges Tier, das behutsam getragen werden musste. Er sagte Hallo und fragte, ob sie die Wirtstochter sei, und zum ersten Mal hörte sie seinen seltsamen Akzent. Sie nickte und merkte, dass sie wie ausgedörrt war, im Hals, auf der Zunge, in der Kehle, und dass es unten pochte, was aber nichts mit Morten im Buchenwald zu tun hatte. Und an diesen Abend würde sie sich immer in allen Einzelheiten erinnern, jede Bewegung und jedes Wort waren in ihre Erinnerung eingeätzt. Bei ihren Auftritten sprachen sie normales Dänisch. Ruben war der Älteste, dann kam der fünfzehnjährige Fits und schließlich der zwölfjährige Ælle. Ælle mit den blonden Engelslocken, die ihm über die Schultern fielen, verkleidet als Julia, und der Vater, Vati Sule, als Romeo. Vati Sule war ein fescher Romeo, groß und aufrecht, mit einer Bürste aus dunklen Haaren und buschigen Augenbrauen über einem ehrlichen Blick.
Die Gäste in der Schenke krümmten sich vor Lachen, als Ælle adrett wie eine kleine Seeschwalbe auf dem Tresen stand, mit einem hohen spitzen Isabellenhut, der einen Schleier an der Spitze trug. Ælle winkte Vati Sule zu, und der schrie aus voller Kehle, obwohl Ælle doch nur einen Meter von ihm entfernt stand: »O sprich noch einmal, holder Engel. Denn über meinem Herzen erscheinst du in der Nacht so glorreich wie ein Flügelbote des Himmels!« Ælle zierte sich kokett, während die Gäste brüllten. Er säuselte seine Antwort mit heller Stimme. Die Kneipe kochte. »Nun gute Nacht! Gute Nacht! So süß ist der Trennungs-schmerz. Ich rief wohl gute Nacht, bis ich den Morgen sähe!«
Worauf Vati Sule in seiner kurzen Samthose, die sich wie zwei riesige Blasen um seine Oberschenkel schloss, erwiderte: »Schlaf wohn’ auf deinem Aug’, Fried’ in der Brust. O, wär’ ich Fried’ und Schlaf und ruht’ in solcher Lust!«
Ælle wurde von zehn starken Fäusten hochgezogen und wie auf einem Siegerstuhl durch die Schankstube getragen, bis Madame Agnes verlangte, ihn auf den Tresen zu setzen, wo er mit
Himbeersaft abgefüllt und ihm ein Hühnerbein in die Hände gedrückt wurde. Jetzt war Fits an der Reihe, ein hochgeschossener, dünner Schlingel, von dem alle höchstens die Frage erwarteten, welche Pferde der Bauer heute angeschirrt haben wollte. Deshalb war es womöglich noch komischer, als er mit inniger Miene und hocherhobener rechter Hand und den Blick auf seinen eigenen Zeigefinger gerichtet loslegte: »Hoch oben im Wald wütet der Wind der Erde. Tief im Tal des Waldes Sonne, und fern vom heimischen Herde ...«
Weiter kam er nicht, denn dann ging es in der Jebseschenke abermals hoch her, und Bierschaum spritzte aus den Mündern. Alfred musste rufen: »Ruhe, Ruhe! Heute Abend findet hier von sieben bis neun eine Dichterlesung statt!«
Dann mussten sie noch ein wenig lachen, über Alfred Jebsens aufgesetzte Feierlichkeit, ohne dass Fits den Arm gesenkt oder den Zeigefinger gekrümmt hätte. Er stand auf dem Tresen und wartete geduldig darauf, dass es weitergehen könne, während alle sahen, dass er auch selber mit dem Lachen rang. »Unter der Glocke des Windes, dem Knacken der Zweige, des Sturmes Pfiff, sitze ich und ich träume, wie ein versunkenes Schiff.«
Aber jetzt hielten sie es nicht mehr aus.
»Können versunkene Schiffe träumen? Das wussten wir noch gar nicht. Hol’s der Teufel, das muss große Poesie sein!«
Und alle Gäste wurden zum Echo füreinander, zu einer Kakophonie aus Kichern und Brüllen und Kommentaren über die Denktätigkeit und die Träume versunkener Schiffe. Fits ließ den Arm
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