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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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wir in der Liebe enttäuscht werden. Ich würde gern solche Geschichten schreiben.«

    »Hast du schon viele geliebt?«, flüsterte sie. »Und bist enttäuscht worden, Ruben?«
    »Nein. Und ja.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich habe keine so geliebt wie dich, und ja, ich bin enttäuscht worden.«
    »Wie denn?«
    »Als meine Mutter gestorben ist. Aber jetzt reden wir von Hans Christian Andersen. Du musst begreifen, dass seine Geschichten viel mehr aussagen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Was ist mit dem hässlichen Entlein, was meinst du?«
    »Das handelt von einem Entlein, das keine Ahnung davon hat, dass es in Wirklichkeit zu einem prachtvollen Schwan werden wird, das ist eine wunderbare Geschichte.«
    »Die kann durchaus von dir handeln, Malie.«
    »Von mir? Was für ein Unsinn.«
    »Du bist ein Schwan, mein Schwan ...«
    Und die Diskussion verlief im Nichts, in Sand und Gras, in Schweiß und Lachen und wildem Tanz in den Wald hinein, wo niemand sie sehen konnte. Und eines Tages ging ihr auf, dass sie ein Kind erwartete. Es war ein Jahr, nachdem sie die Jebseschenke verlassen hatte. Es war eigentlich unglaublich, dass es so lange gut gegangen war. Sie wusste sofort, als sie in diesem Monat nicht blutete, dass es jetzt geschehen war. Sie sah Frau Bertilsen mit ihren elf Kindern und ihrem verweinten Gesicht vor sich, wie sie Jagd auf ihren Mann und die Fünfdutzend machte. Sie sah vor sich das verhärmte und bittere Gesicht der Mutter und die Fettfalten, die aus ihrem Ärmel hervorhingen. Sie sah vor sich straffe, harte Bäuche unter verschlissenen Kleidern. Hängebrüste und verrotzte Kindergesichter. Weinen, Streit, Suff und Blut.
    Sie waren auf dem Weg nach Odense. Vati Sule hatte versprochen, ihr zu zeigen, wo Hans Christian Andersen geboren worden war. Sie blutete immer pünktlich, doch jetzt war sie fünf Tage über ihre Zeit hinaus. Sie hatten sich am Rand eines Marktplatzes
niedergelassen. Malie bekam im dortigen Wirtshaus eine Bütte mit heißem Wasser geschenkt und freute sich darauf, die mit Kleidern zum Waschen zu füllen. Und als sie die Bütte zur ück zum Wagen trug und spürte, wie ihre Bauchmuskeln sich anspannten, wagte sie zu denken, dass sie eigentlich Bauchschmerzen haben müsste; wenn alles seine Richtigkeit gehabt hätte, hätte sie gewartet, bis sie Ruben oder Fits bitten konnte, die Bütte zum Wagen zu bringen, weil sie Schmerzen hatte, weil sie blutete.
    Die Jungen und Vati Sule waren auf dem Marktplatz am Werk, sie konnte dem Gelächter anhören, dass die Vorstellung ankam. Hier kannten alle ihren Hans Christian Andersen. Während der letzten vierzehn Tage hatte Malie abends für Ælle drei Kapuzen genäht, aus buntem Garn und Stoff. Er spielte die drei Hunde, die unten im Baum saßen und ihre Kupfer-, Silber- und Goldm ünzen bewachten, mit immer größeren Augen. Sie hatten eine vereinfachte Version des Märchens entwickelt, weil Malie sich nicht traute, mitzumachen. Sie wagte es nicht, vor vielen Menschen aufzutreten, aber sie hatte mit den anderen geübt. Fits spielte die Prinzessin und Ruben den Soldaten. Vati Sule war Hexe und Erzähler. Er erzählte, was passierte, wenn nicht genug Darsteller vorhanden waren. Und am Ende, als alle drei Hunde bei der Hochzeit mit zu Tisch sitzen durften, sollte Ælle sich je eine Kapuze an die Wangen und eine über den Kopf halten, um die drei Hunde zu symbolisieren.
    Das Publikum jubelte, das konnte sie hören. Sie selbst war zu nervös, um zuzusehen. Außerdem wurde Ruben schon ungeduldig, weil sie nicht auftreten wollte. Sie traute sich doch, wenn sie allein waren. Um ihn zu überraschen und ihn zu beeindrucken, lernte sie den Erlkönig. Rüben sollte sie Deutsch sprechen hören, sollte hören, dass sie auswendig lernen konnte. Aber jetzt ... sie stellte die Bütte auf den Boden, ließ sich auf die Treppe vor dem Wagen sinken und weinte. Sie presste die Hände auf ihren Bauch und dachte immer weiter an Blut und an Sidsel mit
den zusammengewachsenen Augenbrauen, die vermutlich zufrieden lachte, wenn ihr Bauch wuchs. Und sie dachte an ihre Eltern. Die waren ihr nicht gefolgt. Sie war nicht wichtig genug gewesen, aber immerhin hatte sie das Geld. Das hatte sie. Ruben durfte nichts erfahren. Er würde verlangen, dass sie das Kind bekam, das wusste sie intuitiv. Es musste weg, das, was da in ihr saß, das wuchs und ihren Körper sprengen und zerstören würde, das alles zerstören würde, wenn sie nicht sofort etwas dagegen

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