Das Erbstueck
aus der Stadt hinaus, sich von jemandem mitnehmen lassen, sagen, sie sei krank, eine lange Lüge darüber auftischen, wie sie während des Auftritts einen langen Spaziergang in die Stadt gemacht hatte. Und dass sie sich verirrt und schreckliche Schmerzen bekommen hatte, dass sie blutete. Sie waren daran gewöhnt, dass Malie jeden Monat davon umgeworfen wurde. Sie würden ihr glauben, weil sie sich
um sie gesorgt haben würden. Sie war außerdem glücklich, weil sie Ruben nichts von dem Geld erzählt hatte. Es war ihr Verlust, nur ihrer. Und der Vater hatte sich über den Verlust sicher viel mehr gegrämt als sie.
D ie Lügen machten sie stark.
Nach einigen Tagen blutete sie nicht mehr, genau wie die Frau vorausgesagt hatte, und sie lernte eine ganz neue Sicherheit kennen. Das kam von den Lügen, wie sie zu ihrer Verblüffung erkannte: an der Distanz, die entstand, weil sie ein Geheimnis hatte, weil sie sich abgrenzte, weil sie heimliche Gedanken hegte, weil sie ihren Kopf mit einem eigenen Leben füllte, das anderen gegenüber nicht preisgegeben oder in Worte gefasst werden durfte. Sie wurde zu einem Raum, der ihr allein gehörte, zu einem Raum, den sie verließ, wenn es ihr so gefiel. Und anfangs fühlte sie sich deshalb durchaus nicht einsam. Sie hielt sich mehr für sich, sang vor sich hin, genoss die Freiheit und die Kraft, die darin lag, erwachsen geworden zu sein, die Illusion, die sie präsentierte, unter Kontrolle zu haben. Alle hielten sie für dieselbe, die sie immer gewesen war. Dafür hielten sie sie. Aber sie wussten nichts. Vati Sule sagte eines Tages, er habe niemals einen Menschen gekannt, der einen Text schneller auswendig lernen konnte als Amalie Thalia Jebsen. Aber das galt für jetzt. Für die Zeit danach. Er hatte Recht. Sie konnte sich auf eine andere Weise konzentrieren als früher. Sie zog die Wörter in ihre neue Ruhe hinein und dann saßen sie da, als könne sie den Text von der Wand ablesen.
Sie lernte die Lieder von Agnete und Elisabeth aus Elverho. Die Jungen kannten die Melodien, und Malie wagte, aus dem
Bauch heraus zu singen, mit der Überzeugung, dass ihre Stimme trug. Sie lernte die Märchen von Hans Christian Andersen. Und sie konnte auftreten. Aber sicher konnte sie das! Schon einen kurzen Monat nach dem teuer erkauften Besuch in der Gasse in Odense gab sie dem Drängen der anderen nach und spielte die Prinzessin auf der Erbse. Sie stellte sich dem Publikum, den Gesichtern, der Menge. Und obwohl die Menge groß und breit war und immer noch anschwoll und hundert gierige Augen sie anstarrten, war sie doch niemand. Sie war nicht gefährlich. Sie ertränkte sich in Worten und Bewegungen, die ihre Rolle ausmachten, und die Gesichter verschwanden. Sie wurden zu einem einzigen großen flimmernden Durcheinander, das weder abwog noch bewertete.
Es kam so weit, dass sie die anderen vorstellte. Sie erzählte, als seeländische Marktfrau, von der Aalmutter. Sie lag auf einer Matratze und wand sich in schlaflosem Schmerz wegen der gotteserb ärmlichen Erbse, die ihr die Ruhe raubte. Und eines Abends hatten sie Haderslev erreicht.
Es hatte den ganzen Tag gegossen, und der Regen hörte erst einige Minuten auf, ehe Vati Sule seine Romeohose anzog und sie selber die Julia spielen sollte. Sie waren gerade mit der Nachtigall fertig. Das war Ælles neue Glanznummer, er spielte den Vogel in diesem Märchen von Hans Christian Andersen. Er stellte abwechselnd den echten und den mechanischen Vogel dar und zwitscherte, dass es eine Lust war, in seiner Hose mit den aufgen ähten Pfauenfedern und einer Federmaske mit Augenschlitzen. Er war triefnass nach dem wilden Lauf durch das Publikum, wo er sich abwechselnd versteckte und die Maske hob, während der Kaiser nach dieser Nachtigall suchte, von der alle redeten, die er aber nie gehört oder gesehen hatte. Vati Sule hatte als Kaiser durch die Menge gebrüllt: »Ich will die Nachtigall hören! Sie muss heute Abend hier sein! Sie hat meine höchste Gnade. Und wenn sie nicht kommt, so soll dem ganzen Hof auf den Leib getrampelt
werden, wenn er Abendbrot gegessen hat!« Dann wurde Ælle endlich gefangen. Er piepste, obwohl der heraufziehende Stimmbruch es immer schwieriger machte, diesen mädchenhaften Ton zu treffen: »Mein Gesang nimmt sich am besten im Grünen aus!« Malie hatte die fortlaufende Handlung erzählt, während Ælle im Regen zwitscherte und pfiff und schnatterte, und die Leute vor Lachen schrien, bis zum Ende, wo Vati Sule als todkranker
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