Das Erbstueck
einem kleinen Bündel verschnürt und in ihr Mieder gesteckt. Doch Ruben lachte nur über ihre Tränen und küsste ihre Hände, leckte sie zwischen den Fingern, bis sie wieder lächelte.
Sie wollte putzen, aufräumen, für alles sorgen und die Tage und die Fahrt zu einer langen Welle aus gleichmäßiger Geborgenheit und Glück werden lassen. Sie wollte die geplatzten Farbblasen gelb übermalen, wollte abgehangenen Hühnern die Federn ausrupfen, wollte dort, wo sie für die Nacht Halt machten, Bier im Bach kühlen, wollte Hemden waschen, wollte Ælles Locken kämmen, wollte dicht an Ruben geschmiegt schlafen und auf den Atem aller anderen lauschen. Sie hatte das Gefühl, in einer Höhle im Wald zu schlafen. Oder sie wollte bei Regen mit Vati Sule auf dem Bock sitzen, in einer gelben Ackerlandschaft, und sehen, wie sich die breiten Hüften von Mikkel und Stark-Hans im Gehen bewegten, während ihre Schwänze im Takt hin und her pendelten und ein neuer Ort wartete und sie wie immer miteinander plauderten.
»Du sprichst nie über Revolution und solche Dinge, so wie Ruben, Vati Sule?«
»Nein. Das hier ist meine Revolution. Fahren und Unterhalten. Das Bild hat er aufgehängt.«
»Ihre Augen gefallen mir nicht.«
»Mir auch nicht. Er findet mich feige.«
»Ruben?«
»Ja. Er weiß nicht, wovon er redet. Ich habe alles gesehen, ich weiß, was etwas bringt und was nicht. Ruben ist ein Träumer. Deshalb will ich bei all unseren Nummern ein glückliches Ende.«
»Nicht wie im Erlkönig?«
»Der ist eine Ausnahme. Und Liebeskummer ist eine Ausnahme, wie bei Heine. Aber das Kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern gibt’s bei mir nicht. Dann lieber die Nachtigall und das Feuerzeug, die gehen gut aus. Die Leute sollen mit erhabenen Gedanken im Kopf und Lachen im Hals nach Hause gehen. Und du musst auch spielen lernen«, sagte Vati Sule.
»Nein«, wehrte sie ab. »Das kann ich nicht.«
»Das können alle. Alle können auftreten, wenn sie sich nur aus sich herauslassen.«
»Ich will nicht aus mir heraus.«
Vati Sule brachte ihr bei, richtig zu reden. Er hielt die Zügel in den Händen, schaute auf den Weg vor ihnen und brachte ihr bei, sich gebildet auszudrücken, ohne dass sie so recht merkte, was hier passierte. Er selber konnte problemlos zwischen Alltagssprache und Bühnensprache wechseln, wie er das selber nannte.
»Dein Mund ist breit und eng, und du bildest die Laute fast ganz oben auf der Zunge«, sagte er. »Du musst sie weiter unten formen und sie aus einem runden Mund und einem offenen Hals herauskommen lassen. Die Stimme braucht Luft und nicht nur einen Druck von unten. Und es muss immer noch mehr Luft vorhanden sein, wo die letzte hergekommen ist. Und jetzt fangen wir noch mal von vorne an ...
Ich weiß ein schönes Land, mit seinen breiten Buchen
am salz’gen Ostseestrand, am salz’gen Ostseestrand ...
Salz’gen. Offener. Du sagst selz’gen. Aber es muss salz’gen heißen.
Es ist vom Meer umkränzet, in Berg und auch in Thal,
es ist das alte Dänemark und gleichwohl Freyas Saal.
Gut. Aber offener bei Freya. Denk an ein A und daran, dass sie Fraja heißt, dann ist es leichter.«
Vati Sule brachte sie dazu, die Nationalhymne erstmals als Text zu hören, nicht einfach als Lied, das sie bisher heruntergeleiert hatte. Sie sprachen über die Bedeutung dieses Textes, dar über, was Runensteine und Asen sind, und was Freya eigentlich mit der Sache zu tun hatte. Er erzählte von Oehlenschläger und Holberg, von Herman Bang und Heines Buch der Lieder und von Goethe, seinem absoluten Liebling. Er konnte sich stundenlang darüber verbreiten, während sie zuhörte und die Jungen hinten im Wagen schliefen. Und wenn auf den Regen der Nebel folgte, erzählte er vom Erlkönig und den Elfen, die im Nebel tanzten. Er
zeigte auf Stellen auf den Wiesen, wo das Gras dichter wuchs als an anderen, weil Blumen und Gras immer besser gedeihen, wenn Elfen darauf tanzen.
»Sie hausen unter Erlen und Weiden an den Bachläufen, und die Tochter des Erlkönigs ist die Schönste von allen. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich glauben, dass deine Eltern dich ihm geraubt haben. Aber man muss sich hüten, damit man nicht durch einen plötzlichen Pfeil albwild wird.«
»Wie der Sohn des Vaters.«
»Ja. Er wurde mehr als nur albwild, er wurde vom König in Besitz genommen. Und das bedeutet den Tod.«
Sie schauderte und rückte dichter an Vati Sule heran. Er hatte es gelassen hingenommen, dass sie sich ihnen
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