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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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Kaiser mit defektem Kunstvogel auf der Bühne lag und die echte Nachtigall ihn vom Sterbebett weckte.
    Sie waren erschöpft und nass. Jetzt wartete Shakespeare, die kleine Liebesszene mit Romeo und Julia, die niemals fehlen durfte. Vati hielt diese Szene für Trupp Sules Markenzeichen, und sie hörten außerdem auf, ehe es traurig wurde, weil die beiden zusammen in den Tod gingen. Vati sagte immer: »Die Leute brauchen zwischen den vielen Dramen auch ein bisschen Melodram.«
    Und die Leute lachten ja doch immer, auch wenn sie ihren Text mit der tiefsten Liebessehnsucht aufsagten.
    Aber dann hörte der Regen auf. Und als der Regen aufhörte, dampfte der Boden heftig. Der Nebel erhob sich fast mannshoch um die Marktbuden und die feuchten Leiber, und ein unscharfes Halbdunkel hing unter den Wolken, wo die Schwalben schwarz und schmal wie gespaltene Schlangenzungen hingen. Ein wenig rechts von der Bühne stand ein Pferdehändler mit mehreren riesigen Gäulen. Sie waren nass und vom Lärm nervös, und ihre langen Decken hingen in den Schlamm auf dem Boden hinunter. Die Stimmung schlug plötzlich um und war nicht mehr klar zu erkennen. Es war der Anblick des Nebels und der Pferde, dem sie diese plötzliche Eingebung verdankte. Jetzt konnte sie den Text auswendig und kannte seine Bedeutung. Das hatte sie auf dem Kutschbock von Vati Sule gelernt. Sie ließ den Isabellenhut liegen, sprang auf die wacklige Bühne und rief:
    »SEHT! SEHT: DEN NEBEL! SEHT DIE PFERDE ... WIE UNRUHIG
SIE SIND! DER ERLKÖNIG IST IN DER NÄHE .. Hört! Jetzt tanzen sie unten am Fluss ... Hört!«
    Die Menschen verstummten jählings. Sie hatten mehr Belustigung erwartet. Sie schauten sich verstohlen um. Jemand versuchte zu lachen, wurde aber zum Schweigen gebracht. Hinter sich, unterhalb der Bühne, hörte sie Ruben flüstern: »Aber Malie, Vater will doch nicht ...«
    Aber sie wollte.
    »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind. Er hat den Knaben wohl in dem Arm, er fasst ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?«
    Einige im Publikum schauten verstohlen in Richtung Fluss. Die Stille hielt an. Malie brauchte nicht mehr zu rufen. Sie hingen ihr an den Lippen. Sie kannten diese unheimliche Geschichte.
    »Du liebes Kind, komm, geh mit mir, gar schöne Spiele spiel’ ich mir dir«, lockte der Erlkönig, während der Vater den kranken Jungen an sich drückte. Der Junge sah die Tochter des Erlkönigs im Nebel tanzen und spürte, wie der Erlkönig an ihm zog und zerrte.
    »Mein Vater, mein Vater, jetzt FASST ER MICH AN!«
    Die Gesichter leuchteten weiß zu ihr herauf. Für einen Moment sah sie die deutsche Puffmutter vor sich, die sie in den Alkoven gezogen hatte. Sie wusste genau, was passierte. Sie spürte die neugierige und zugleich zerreißende Angst des Jungen. Und als sie weiterdeklamierte und zum Abschluss kam, sah sie unten in der Menge auf der Wange einer Frau Tränen:
    »Er hält in den Armen das ächzende Kind, erreicht den Hof mit Müh und Not, in seinen Armen das Kind war ... tot. «
    Sie hatte sich bei keinem Wort, bei keiner einzigen Endung versprochen. Die Menge aus Bauern und Handwerkern und Marktfrauen jubelte ihr respektvoll zu. Sie drehte sich um und fing Rubens Blick auf. Er war erfüllt von Angst, so, wie sie es selber
empfand und woran sie glaubte. Er stieg auf die Bühne und hielt ihren einen Arm hoch.
    »Applaus für Amalie Jebsen!«, rief er. »Aber sie ist eigentlich eine Komödiantin, eine Thalia! Davon werdet ihr bald mehr sehen, noch einen Moment ...«
    Sogar Vati Sule standen die Tränen in den Augen. Es war leicht, danach Romeo und Julia zu spielen, das eine Erlebnis wie eine Decke um das nächste zu hüllen. Aber sie brauchten mehrere Minuten, um die Leute zum Lachen zu bringen. Erst als Ælle abermals eine zwitschernde Runde durch die Menge drehte, als übermütig sangeslustige Nachtigall, brach das Lachen sich Bahn und saß das Geld wieder locker.
    Der Nebel lichtete sich und zeigte am Westhimmel einen lachsrosa Sonnenuntergang. Ein Fremder brachte Wein und Schnaps, eine Frau kam mit zwei bereits gerupften, abgehangenen Hühnern. Sie durften sich nicht zu Mikkel und Stark-Hans und dem Wagen zurückziehen. Alle wollten mit ihnen reden und Malie bewundern. Ruben behauptete, mindestens achtundzwanzig hätten sich in sie verliebt. Und tief im Schlaf und im Weinrausch zitterte noch immer dieses Erlebnis. Sie musste

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