Das Erbstueck
plötzlich angeschlossen hatte. Er hatte nur neben Ruben Platz für sie gemacht und ließ sie jetzt nachts beieinander liegen.
»Aber Vati fürchtet sich vor nichts, nicht einmal vor den gew öhnlichen Dingen, vor denen gewöhnliche Leute sich fürchten« , sagte Ruben.
Anfangs behielt sie Vati wachsam im Blick, als habe er Pläne, sie zu begrabschen, wenn Ruben den Rücken kehrte. Aber das passierte nie. Und jetzt hatte sie Vertrauen zu ihm. Mit Fits sah die Sache schon anders aus. Er war zuerst eifersüchtig. Bis Malie an seinem Geburtstag einen Ochsenschwanz kochte und ihn, als Fits erwachte, zusammen mit Senf und Roggenbrot und Limonade servierte. Und Ælle betete sie an. Wenn er aufwachte und an seine Mutter dachte, sang Malie leise in der Dunkelheit von Dänemark, das so ein schönes Land war, während Vati Sule unter seinen Decken schmunzelte und auf ihre Aussprache horchte.
»Aber du musst spielen«, beharrte Vati Sule.
»Nein«, sagte sie.
»Hast du schon mal ein richtiges Schauspiel gesehen?«
»Ja! Harlekin und Kolumbine! Im Bakken!«
Sie lachten sie aus, bis sie selber lachte und meinte, bei ihrer Aussprache müsste sie doch für eine stumme Rolle in einer Pantomime wie geschaffen sein.
»Du solltest dir Elverhøj ansehen«, sagte Vati Sule. »Du wärst die perfekte Agnete. Du bist das Elfenmädchen. Ja, aber nicht nur ... du bist bestimmt auch Elisabeth, die am Fenster steht und singt und auf ihren Geliebten wartet.«
»Aber Elverhøj können wir doch nicht spielen, Vati«, sagte Ruben.
»Nein, du, dazu sind wir doch zu wenige.«
Eines Tages hatten sie ihr zu lange zugesetzt und zu ausgiebig untereinander über sie geredet, und deshalb ärgerte sie sich und wollte sich damit rächen, dass sie breit und unfein redete. Sie sollte die Prinzessin auf der Erbse spielen, als Anfang, obwohl sie das tausendmal abgelehnt und daran erinnert hatte, dass das Ælles Glanznummer war.
»Eine Prinzessin muss schön und vornehm sprechen, und das kann ich nicht«, sagte sie.
»Doch, das kannst du«, sagte Ruben. Sie saßen hinter dem Wagen und aßen Knackwürste und frisch gekochte Möhren, die sie an einem Feldrand gestohlen hatten. Vati Sule hatte außerdem ein Stück Räucheraal gekauft. Malie sprang auf, stemmte sich die Hände in die Seiten und rief mit lauter, scharfer Stimme: »Du brauchst Schnaps zum Aal. Dann ertrinkt der!«
»Der ertrinkt?«, fragte Vati Sule total verblüfft.
»Hast du nicht von der Aalmutter und ihren Töchtern geh ört?«, schrie Malie.
Er schüttelte den Kopf.
»Eines Tages war eine Tochter verschwunden, denn sie und ihre Schwestern hatten weit von zu Hause weg gespielt. Die anderen kamen zur Mutter und sagten, ein Fischer habe sie gefangen. Die kommt schon zurück, sagte die Aalmutter. Aber er hat ihr die Haut abgezogen, riefen die Schwestern und weinten und
jammerten. Die kommt schon zurück, antwortete die Aalmutter. Aber er hat sie geräuchert, riefen die Schwestern und weinten noch mehr. Aber er hat sie gegessen, riefen die Schwestern verzweifelt. Die kommt schon zurück, sagte die Aalmutter. Und danach hat er einen Schnaps getrunken, weinten die Schwestern. DANN kommt sie nicht zurück, sagte die Aalmutter, denn im Schnaps ertrinken wir.«
Ruben grinste und zog sie zu sich ins Gras.
»Ich hab’s ja gewusst«, sagte Vati Sule. »Du kannst doch spielen. Du bist ein komisches Talent, Amalie Jebsen. Eine Thalia!«
»Amalie Thalia Jebsen«, sagte Ruben.
Er ließ sie Hans Christian Andersen lesen. Das war etwas anderes als in der Schule. Sie las so langsam oder so schnell, wie sie wollte. Das Buch war abgegriffen und fühlte sich weich an, wie Fell. Sie las gern draußen, neben den Pferden, ehe abends alle schlafen gingen.
»Er war ein echter Revolutionär«, sagte Ruben.
»Wer?«
»Hans Christian Andersen.«
»Das war er nicht! Er war doch ein lieber Mann!«
»Und was glaubst du, wovon die Geschichten handeln? Wenn er ein kleines Mädchen am Heiligen Abend erfrieren lässt?«
»Von ihr. Und ihrer Großmutter.«
»Nein! Von Armut! Davon, wie schrecklich die ist. Wir waren selber arm. Ja, und wir sind im Grunde immer noch arm.«
»Das ist etwas anderes.«
»Nein, das ist dasselbe. Und der Zinnsoldat mit einem Bein?«
»Der war ein Spielzeug. Kinder zerbrechen ihr Spielzeug.«
»Diese Geschichte handelt vom Krieg. Unter anderem. Von der Sehnsucht danach, dazuzugehören, von dem Schönen, nach dem wir uns sehnen, wie die Verletzten sich zusammentun und wie
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