Das Erbstueck
Küche?«
Madame Agnes warf einen raschen Blick auf ihren Mann, dann riss sie die Tür zu Malies Zimmer auf. Sie sah sofort, was dort fehlte. Der kleine Spiegel vor dem Fenster, die Haarbürste, die neuen Schuhe, die auf dem Nachttisch gestanden hatten. Sie blieb für eine oder zwei Sekunden bewegungslos stehen, dann wirbelte sie herum und stellte Alfred Jebsen zur Rede. »Sie ist weg. Fort. Und das ist deine Schuld. DEINE!«
»Meine? Aber ich ... ist sie weg? Woher weißt du das?« Er versuchte, sich zu sammeln. Hilflos stemmte er die Hände in die Seiten seines schweißnassen Nachthemdes und richtete sich gerade auf.
»Das sehe ich! Ich habe doch Augen im Kopf. Und wenn du es selber nicht weißt, warum hast du so geschrien, Alfred?«
»Weil ich ... Hast du die Matratzen gewechselt? Sie umgedreht? Oder ...«
»Was FASELST du da? MATRATZEN? WO MALIE VERSCHWUNDEN IST? Hast du den VERSTAND verloren?«, schrie sie ihm ins Gesicht.
»Nein, das nicht«, antwortete er mit mühsam erkämpfter Ruhe, und plötzlich kam ihm eine neue Erkenntnis. Es könnte lebensgef ährlich sein, diesen schmerzlichen Verlust mit seiner
Frau zu teilen. »Das war nur eine einfache Frage. Und wenn das Mädel wirklich weg ist ...«
»Dann soll sie doch sehen, wo sie bleibt. Dann ist sie die Tochter ihres Vaters. IDIOT! Und außerdem wird sie schon zurückkommen. Lotte muss mir so lange in der Küche helfen, ich muss überlegen, ich muss eine Lösung finden, wie ...«
Sie verließ das Zimmer. Alfred hüpfte barfuß hinter ihr her über den Bretterboden.
»Ich hole unsere kleine Malie zurück. Ich werde Simon-Peter satteln und suchen. Sie sind nach Süden gefahren. Wir wissen ja, mit wem sie zusammen ist, Agnes.«
Sie fuhr herum und fauchte leise: »Das tust du NICHT, Alfred Jebsen. Du bleibst hier. Wenn diese dumme Göre sich herumzigeunernden Theaterleuten an den Hals werfen will, dann ist sie nicht mehr meine Tochter. Dann ist sie nur eine schnöde Dreigroschenhure, und ich will sie in meinem Haus nicht mehr sehen. Dieses undankbare kleine ...«
»Aber was ist mit meinem ... mit ... sie ist doch auch MEINE Tochter.«
»Woher weißt du das? Du kannst in den Fluss springen und dich waschen. Du stinkst. Nach Fisch und faulen Zähnen. Und Simon-Peter könnte dich doch gar nicht tragen.«
Er blieb mit hängenden Armen oben an der Treppe stehen und schaute ihr nach. Er atmete wütend durch die Nasenhaare. Elfhundert Kronen. Ein ganzer Krieg. Sein Krieg. Er hätte das Geld doch im Rode Hav mit den Mädchen verjubeln sollen. Verdammte Drecksgöre. Wenn er sie erwischte, würde es klatschen. Die Schlacht war verloren. Ohne sich anzuziehen, lief er hinunter in die Küche, drehte den Deckel von der Schnapsflasche und setzte sie an den Mund. Er konnte fünf tiefe Züge kippen, ehe Madame Agnes ihm die Flasche entriss und die Hälfte des Inhalts auf den Boden verschüttete.
»Du Schwein!«, fauchte sie. »Du hast einfach keine Spur von
Mumm. Heute will ich dich nicht mehr sehen und auch nicht mit dir reden. Verschwinde!«
»Wenn du nicht mit mir reden willst, dann halt zum Teufel deine verdammte Scheißfresse!«
Er ging wieder nach oben und legte sich ins Bett. Er tastete nach der leeren Stelle in der Matratze und weinte, zum ersten Mal seit seiner frühen Kindheit.
S chräg fallender Regen prasselte auf sie ein. Die gelben Blumenranken an der Wagentür leuchteten im Regen, sie warfen Blasen, die dann platzten, wenn die Sonne sie wärmte. Hinter dem Regen, aneinander geschmiegt in ihren warmen Decken, lagen Malie und Ruben. Sie waren daran gewöhnt, sich Zeit zu stehlen, sich hinter den dringenden Pflichten der anderen zu verstecken, um zueinander zu kommen, um zu lecken und zu lutschen, um ganz still bei dem zu sein, was Ruben flüsternd unsere Liebe nannte. Von einem zerknitterten und unscharfen Foto, das über einem Bücherregal mit an Lederriemen festgebundenen Büchern an der Wand befestigt war, schaute Rosa Luxemburg auf sie herab, eine Frau mit einem strengen Gesicht und dunklen, altmodisch frisierten Haaren. Malie mochte ihre Augen nicht. Und weil Ruben ihr so viel über diese Frau und den Spartakusbund erzählt hatte, hatte sie immer Angst, Ruben könne dasselbe Schicksal erleiden, ihr wegsterben, verschwinden, ermordet werden, weil er an etwas glaubte, weil er an allzu viel glaubte. Wenn sie zu intensiv darüber nachdachte oder Rosas Bild zu lange ansah, brach sie in Tränen aus. Und dann hätte sie am liebsten den ganzen Ruben zu
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