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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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streichen konnten. Vati saß mit hängendem Kopf auf dem Bock. Sie sah ihm nicht ins Gesicht. Er wurde zu einem trügerischen Flimmern im Augenwinkel.

    Sie blieb im Schilf sitzen, bis sie lange vorüber waren, und dachte an einen Jagdhund, der plötzlich über ihr stand und keuchte, und der sie danach verschmähte, weil er einen viel schöneren Vogel gefunden hatte.

A ber es war nicht gefährlich. Im Grunde nicht. Nichts war gef ährlich. Es war nicht gefährlich, unter offenem Himmel zu schlafen, während eine Kröte gleich neben ihrem Ohr quakte. Es war nicht gefährlich, mit leerem Magen durch die Hitze zu wandern. Gefährlich wäre es, nach Hause zu gehen, aber das hatte sie durchaus nicht vor.
    Sie dachte an alles, was sie erzählt hatten. Es lag auf Amager. Irgendwo auf Amager. Amagermutter, gib mir die Butter... nein, die kriegst du nicht, du törichter Wicht. Der Amagermann ist riesengro ß, die Amagerfrau hat den breitesten Schoß, ihr Pferd, das ist ein Amagergaul, und ihre Zwiebeln sind immer faul...
    Das Røde-Kro-Theater. Sie würden über sie lachen. Aber auch das wäre nicht gefährlich. An Lachen war sie gewöhnt. Sie hatte zwei Jahre lang mit Lachen gelebt. Das Lachen hatte ihr Essen und Trinken gegeben, heißes Waschwasser und eine Haube, die nicht mehr ihr gehörte. Das Lachen hatte ihr eine lange Reise in einer warmen Umarmung gebracht. Von nun an würde sie allein zurechtkommen. Sie würde niemandem mehr vertrauen, wenn ihr das nicht einen klaren Vorteil brachte.

    Auch die Stadt machte ihr keine Angst. Sie kannte die Gerüche und Geräusche von den Aalfahrten. Für einen kurzen Moment dachte sie: Ich könnte doch auch in die Holmensgade gehen. Wie die Mädchen dort werden. Aber das war früher gewesen. Vor
den Zeitungen und den Wanzen. Die Holmensgade bedeutete Blut und Schmerzen hinter Parfüm und Weingläsern. Vielleicht würde sie trotzdem dort enden, aber zuerst musste sie etwas anderes versuchen; feststellen, ob sie einer ganz anderen Welt nicht irgendeinen Vorteil abringen konnte.

    Sie wurde von mehreren Karren mitgenommen. Sie fragte nach dem Weg und wurde durch eine Kopfbewegung eingeladen. Sie wusste, dass sie schmutzig war und dass ihr Zopf vor Gras und Fusseln nur so strotzte. Eine Frau gab ihr einen Kringel und einen Apfel. Sie glaubten wohl, dass sie ... Sie wusste nicht, was sie glaubten. Es spielte keine Rolle, sie verachtete sie. Sie waren mit ihrem Leben zufrieden und ahnten nicht, dass es sich um ein Halbleben handelte, sie hatten nicht geliebt, sie waren feige. Von der Islands Brygge bis zur Langebro ging sie zu Fuß. Ein Junge, der einen Karren voller Stuck hinter sich herzog, sagte, sie müsse in den 0stersundsvei, wenn sie zum Rode Kro wollte. Sie sah das Theater schon aus der Ferne und setzte sich auf die andere Straßenseite. Die Fassade war prunkvoll, beeindruckend, rot und mit einem großen, reich verzierten Bogenportal, das von einer dicken vergoldeten Zwiebelkuppel gekrönt wurde. Es sah zu schön aus. Plötzlich hatte sie Angst. Zum ersten Mal, seit Ruben bis ans Kinn unter der weißen Decke gelegen hatte, hatte sie Angst. Die Menschen gingen durch das Portal ein und aus, wimmelten durch die Straße oder zogen Wagen mit Fleisch und Milch und Brot und Gemüse hinein. Es war mitten am Tag. Sie blieb sitzen, bis der Abend kam, und hatte ihren Zopf wie einen Schoßhund auf ihren Knien liegen. Restaurantgäste und Theaterpublikum trafen in Pferdedroschken und Automobilen ein, einige auch mit dem Rad. Sie hatte offenbar ein wenig geschlafen, an die Mauer gelehnt. Niemand sprach sie an, niemand schien sie zu bemerken. Sie war so schmutzig und ungepflegt, dass sie unsichtbar geworden war. Später hörte sie Musik von drinnen, schmissige und muntere
Musik, zu der rhythmisch geklatscht wurde. Und dann durchschritt sie das Portal.

    Vor einer niedrigen und unansehnlichen Nebentür standen zwei Handkarren. Sie klopfte an. Ein älterer Mann mit Schaum in den Mundwinkeln und feuerroter Brokatweste über einem verschwitzten Hemd öffnete die Tür einen Spaltbreit. Sie hasste ihn auf den ersten Blick. Er stand im Weg. An ihm musste sie vorbei.
    »Ja? Was ist los?«
    »Ich möchte gern ... hier arbeiten.«
    »Arbeiten? In der Küche? Wir haben genug Leute.«
    »Nicht in der Küche. Auf der Bühne.«
    »Auf der Bühne! Ha!«
    »Ich bin fast in Elverhøj aufgetreten und kann alle Lieder. Mein Name ist Amalie Thalia Jebsen. Ich bin Komödiantin.«

Teil VI
    Ich hab noch einen Koffer

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