Das Erbstueck
geht jetzt gut«, flüsterte er. »Er schläft. Morgen ist er wieder gesund. Und wir fahren zum Bakken.«
Am nächsten Tag regnete es. Ein grauer zielloser Regen, der gerade herunterfiel, mit dichtem Nebel, der sich über die Felder wälzte und sich in den Bäumen verfing. Malie öffnete die Tür hinten im Wagen, sah den Nebel und dachte: Der Erlkönig ist hier. Er ist gekommen, um Ruben zu holen.
Sie hämmerte an die Tür der Krankenstube, bis die Frau des Arztes mit lose hängenden Haaren aufmachte. Sie drängte sich an ihr vorbei. Der Arzt stand bereits an Rubens Bett, sein weißes Hemd hing über seine Hose, und seine Hosenträger schleiften über den Boden. Er drehte sich um und erwiderte für eine Sekunde ihren Blick, dann fiel sie vor dem Bett auf die Knie.
Rubens Gesicht war wieder weiß und leblos, und aus seinem Mund strömte ein strenger, süßlicher Geruch.
»Es tut mir Leid«, sagte der Arzt. »Sind Sie seine Schwester? Das Insulin war nicht sauber. Es ist zu spät. Er hat schon Beulen an den Beinen und liegt wieder im Koma.«
Sie saßen alle bei ihm, als er später am Nachmittag starb. Ælle steckte den Daumen in den Mund und wiegte sich auf seinem Stuhl hin und her. Vati Sules Gesicht war starr und ausdruckslos. Das hier konnte er auch durch Flucht mit den Pferden nicht abschütteln. Fits saß an der Wand, er hatte die Augen mit der Hand bedeckt, und seine Schultern bebten.
Malie war jetzt still und weinte nicht mehr. Sie würde nie mehr weinen. Sie hatte die Hände im Schoß liegen und starrte das Gesicht auf dem Kissen an. Dieses schöne Gesicht, das sie zum ersten Mal gesehen hatte, als sie aus dem Buchenwald gekommen war, vom Stallburschen Morten, mit zerzausten Haaren und verrutschtem Mieder. Und seither hatte es für sie keinen anderen gegeben. Sie hatte das Kind getötet, das sie unter ihrem Herzen getragen hatte. Rubens Kind, das hätte sie niemals tun dürfen, es wäre sicher ein Junge geworden. Ruben hätte es nie erfahren. Sie würde nie mehr die gelben Blitze in seinen Augen sehen, wenn er über unsere Liebe sprach, nie mehr würde sie das Gewicht seines Armes auf ihrem Arm und ihrem Schoß spüren, wenn sie mitten in der Nacht von irgendeinem Geräusch geweckt würde. Nie mehr würde sie sein unheimliches Revolutionsgerede hören. Er hatte sie seinen Schwan genannt. Aber das war sie jetzt nicht mehr. Sie war ein hilfloses Entlein, mehr nicht.
Er starb lautlos. Sie bemerkten es nicht. Der Arzt sagte es ihnen. Vati stieß einen einzigen trockenen Schluchzer aus, als Ælle ihm um den Hals fiel. Malie schloss die Augen, das Kind war tot.
Sie stand in der dunklen Mainacht zwischen den Pferden und atmete still und konzentriert aus und ein, als Vati Sule neben sie trat.
»Du musst schlafen«, sagte er. »Du musst jetzt schlafen. Malie ...«
»Nein. Ich kann nicht schlafen.«
Er legte die Arme um sie. Sie stand stocksteif in seiner Umarmung.
»Ich kann nicht«, wiederholte sie.
»Weißt du was«, flüsterte er. »In einer Weile, wenn du dich besser fühlst, kannst du gern unter meine Decken umziehen ...«
Sie sagte, sie wolle vor dem Schlafengehen noch einmal zum Fluss. Die Worte kamen von selber, ganz ruhig. Sie klapperte mit den Zähnen, hoffte aber, dass er das nicht hörte. Er ließ sie los, und sie konnte gehen.
»Es war nicht so gemeint«, rief er hinter ihr her. »Ich dachte nur...«
»Ich bin bald wieder da«, erwiderte sie und schluckte Magens äure hinunter. Ihr eines Knie brannte vor Schmerz, als sei sie über einen Boden gekrochen und habe sich an einem dicken Holzsplitter verletzt.
Unterwegs sagte sie immer wieder den Erlkönig auf. Der Nebel umwogte sie ... mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort – Erlkönigs Töchter am düstern Ort? Der König konnte sie haben oder sie rauben und zu seiner Tochter machen, sie verschlingen lassen, sie von dem Gedanken an Vatis Decken erlösen. Als die Vögel anfingen zu singen und in den ersten Sonnenstrahlen ihr Gefieder zu putzen, hörte sie hinter sich den Wagen. Sie versteckte sich an einem Bachufer im Schilf. Ælles verweintes Gesicht schaute aus dem Wagen, aber das ging sie nichts an, und auch der Gedanke an Fits betraf sie nicht. Sie sollten sich um sich selber kümmern. Sie hatte sich um sie alle gekümmert, und was hatte ihr das gebracht? Einen schweren Stein im Bauch, einen Brand im Kopf, der sie nach Wein verlangen ließ. Ihre Handflächen waren eiskalt, ihnen schien Haut zu fehlen, über die sie
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