Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
Vom Netzwerk:
erleiden. Malie hatte wie immer auf dem Bock gesessen
und gemerkt, wie die Gerüche von Seeland immer stärker wurden. Die grünen Kornfelder erstreckten sich auf beiden Seiten der Straße, und in der Luft sangen muntere Bachstelzen und Brachvögel und der eine oder andere Zug Gänse in lärmendem und zitterndem Anflug. Die Störche strebten nach Norden, mit roten Hängebeinen unter dem Bauch. In vier Tagen würden sie und die anderen den Bakken erreicht haben, bereit, das Stück zu proben. Ob ihr dort Bekannte begegnen würden? Würde Alfred Jebsen auftauchen und sie halb tot schlagen? Sie hatte sich eine Haube gekauft und wollte ihre Haare verstecken. Aber würde er die anderen denn nicht erkennen? Trotzdem – was hätte Schankwirt Jebsen schon in einer Aufführung von Elverh øj verloren? Sollte er kommen, um sie zu suchen? Vati hatte, ohne dass sie etwas gesagt hätte, begriffen, dass sie sich Sorgen machte. Er hatte also vor fast zwei Jahren doch nicht die Lüge geglaubt, dass ihre Eltern ihr alles erlaubt hätten.

    »Er wird einfach nicht wach!«, rief Ælle.
    »Er ist kalt und zugleich in Schweiß gebadet!«, rief Fits ihnen zu.
    Vati hielt die Pferde an. Er und Malie sprangen vom Bock und rannten nach hinten. Später konnte Malie sich nur erinnern, dass sie verzweifelt geweint hatte, während Vati Mikkel abgeschirrt hatte, um rittlings auf ihn zu springen und nach Ringsted zu reiten, wo es einen Arzt gab. Sie streichelte immer wieder Rubens Gesicht. Fits versuchte, ihm einen Löffel Honig in den Mund zu schieben, aber Ruben schluckte nicht. Sie hatten Angst, er könne ersticken, und gaben auf. Nach einer endlosen Zeit kam Vati zurück, gefolgt von einem berittenen Arzt. Es war ein älterer Mann mit offenem Kragen, grauem Hängeschnurrbart und besorgten, nässenden Augen. Und dieser Arzt sprach als Erster das Wort Koma aus. Ruben lag im Koma, aller Wahrscheinlichkeit nach sei er zuckerkrank, sagte der Arzt, als Fits ihm erklärt hatte, wie schrecklich müde Ruben in letzter
Zeit gewesen sei. Er müsse in die Krankenstube. Aus Amerika sei ein neues Mittel namens Insulin gekommen, ob sie Geld hätten? Vati nickte.
    »Ich nehme ihn auf mein Pferd«, sagte der Arzt. »Es geht um sein Leben. Ich werde das Mittel bis heute Abend besorgen, ich schicke meinen Sohn nach Kopenhagen, um es zu holen.«
    Vati und die Jungen halfen, Ruben in Decken und Riemen zu wickeln. Malie saß schluchzend im Wagen. Sie war selber einer Ohnmacht nah. Vati spannte Mikkel wieder an. Sie folgten dem Arzt in hohem Tempo. Der Wagen schepperte wie eine leere Dose. Die Räder bebten und kreischten. Fits, Ælle und Malie wurden hin und her geworfen und mussten sich an den Bretterkanten im Wagen anklammern. Die Bücher hagelten ihnen um die Ohren, nur Rosa Luxemburgs Blick war unverändert. Streng. Gleichgültig, was die Alltagsprobleme des einzelnen Menschen in der Masse anging. Malie riss das Bild von der Wand, zerfetzte es in winzige Stücke und warf sie aus der Hintertür. Weder Fits noch Ælle sagten etwas, sie schauten nur den Papierschnipseln hinterher.

    Er lag schon im Bett, als sie ankamen. Eine weiße Decke hüllte ihn bis zum Kinn ein. Er bewegte sich nicht. Das Kinn warf einen kleinen Schatten auf die Decke. Seine dunklen Haare lagen lebendig und ungebärdig auf dem Kissen, wie ein Protest. Malie streichelte sie immer wieder und wusste nicht, wie viel Zeit verging. Es gab für sie nur Tränen und den Drang, laut zu schluchzen oder zu heulen, dazu Menschen, die an ihr zogen und sie zum Ausruhen drängten. Sie drückte die Hände weg, schlug danach, wenn sie keine Ruhe gaben.

    Dann kam der Abend. Irgendwo im Haus hatte eine Uhr soeben neunmal geschlagen, als sie laute Stimmen hörte. Die Medizin aus Kopenhagen war eingetroffen. Sie kniete neben dem Bett und presste ihr Gesicht in die Kissen. Sie wurde fortgezerrt. Sie
schrie. Sie hörte, dass etwas mit Ruben geschah, danach seinen lauter werdenden, röchelnden Atem.
    »Nein«, sagte er.
    »RUBEN!«
    Aber sie hielten sie fest. Niemand durfte ihn berühren, er war wieder eingeschlafen.
    »Normaler Schlaf«, sagte der Arzt. »Er braucht jetzt Ruhe.«

    Sie träumte von tiefem Wasser und tausend Aalen, die sich um ihren Leib wickelten. Goldaal und Silberaal, und ein Haken, der ihre Haut von den Knochen riss. Sie bekam keine Luft. Ihre Gesichtshaut war fortgefetzt worden und bedeckte den Mund, drohte, sie zu ersticken. Sie wurde davon geweckt, dass Fits ihre Stirn streichelte.
    »Es

Weitere Kostenlose Bücher