Das Erbstueck
nicht mehr darüber reden. Wir reden doch nie über ... ihn.«
»Das nicht. Aber jetzt haben wir eben damit angefangen. Egal. Er war Österreicher, das weiß ich.«
»Und wer hat dir das erzählt, wenn ich fragen darf?«
»Ich habe das Bild gesehen. In einer Zeitschrift. Dieses verdammte Bild, das du auf so krankhafte Weise anbetest. Das kommt aus dem Haus!«
»Fass ja das Bild nicht an!«
»Es kommt AUS DEM HAUS!«
»Nein! Mogens! Die Kinder wachen auf!«
»Lass mich los. Lass mich los, Malie. So kannst du dich nicht aufführen. Steh auf!«
»Mogens ... ach, Gott, Mogens. Nicht ...«
Ruby hörte einen klirrenden Knall, auf den wieder Stille folgte. Sie hob den Haken an und schlich sich auf den Flur, lugte durch die Türöffnung. Die Mutter lag in ihrem schönsten Kleid zu Füßen des Vaters auf dem Boden, mit einer Silberrosette im Haar und einer langen Perlenkette, die ihr auf den Rücken geglitten war. Der Vater stand einfach nur da, mit hängenden Armen und Fäusten, die sich öffneten und wieder ballten. Die Tapete unter dem Bild war feucht und rot, auf dem Boden lagen Glasscherben.
Das Glas vor dem Bild war auf der linken Seite zerbrochen, aber das Bild hing noch. Es hing nicht einmal schief.
»Er ist schon 1936 gestorben«, sagte der Vater. »Das habe ich gelesen.«
»Er ist tot? TOT? Rudolf ...«
Die Mutter kam auf die Knie. Ihr Mund stand halb offen; dieses dunkle Loch, und ihre Augen füllten ihr ganzes Gesicht. »Aber wenn er tot ist ... dann ist doch alles zu spät ...«
»Es war die ganze Zeit zu spät«, sagte der Vater. »Es ist sieben Jahre her. Und jetzt gehst du schlafen.«
Ruby rannte zurück in ihr Schlafzimmer. Ib schlief. Sie strich seine Decke glatt und schlüpfte unter ihre eigene. Die Linden draußen rauschten leise. Sie waren jung und schmächtig, gepflanzt, als das Haus gebaut worden war. Sie steckte zwei Finger in den Mund und nuckelte daran. Sie schmeckten nach salzigem Urin. Die Mutter würde das Handtuch entdecken und sie verprügeln. Nicht nur mit Ohrfeigen, sondern mit dem Gürtel auf die nackte Haut. Sie hielt sich die Hände vor die Ohren und lauschte der Musik.
Am nächsten Tag wurde das Handtuch dann jedoch nicht erwähnt. Die Mutter lief langsam in der Küche hin und her, räumte auf, fütterte Ib, kochte Kaffee und bat den Vater, Koks aus dem Keller zu holen. Ihr sei kalt, sagte sie. Der Vater holte einen Eimer voll und heizte ein. Auch er war sehr still. Die Tapete war gesäubert worden, die Glasscherben waren verschwunden. Ruby durfte zu Anna hinüberlaufen. Sie hatten seit Freitag nicht mehr miteinander gespielt. Sie wollte Anna fragen, wie man Kinder bekam, und zu welchem Zeitpunkt man aufhörte, wenn man die Sache dann doch ungeschehen machen wollte. Aber Anna wusste nur, dass es etwas mit Störchen zu tun hatte, die auf den hohen Dächern draußen auf dem Land riesige Nester bauten und mit ihren langen, bedrohlichen roten Schnäbeln klapperten.
»Es ist schwer, sie aufzuhalten, wenn sie erst einmal da sind«, sagte Anna. »Sie sind doch riesengroß. Ich glaube nicht, dass man sich die Sache anders überlegen kann, wenn das Kind bestellt ist.«
»Bringen die den falschen Leuten die falschen Kinder, was meinst du?«
»Vielleicht. Wenn es neblig ist und sie den Namen der Familie vergessen haben.«
»Aber man kriegt sie doch im Krankenhaus. Die Kinder. Und in der Luft über dem Krankenhaus sieht man nie einen Storch.«
»Sie kommen bestimmt nachts. Durch das Fenster.«
»Und dann ist es zu spät. Dann ist es geschehen«, sagte Ruby.
A n dem Tag, als die Deutschen kamen, entdeckte die Mutter bei Ruby Läuse. Der Lärm aus der Luft setzte gleich nach dem Frühstück ein. Die Mutter und Ruby rannten auf die Treppe hinaus und starrten zum Himmel hoch. Hunderte von grauen Flugzeugen mit schwarzen Kreuzen dröhnten zum Flughafen Kastrup. Sie flogen so tief, dass Ruby glaubte, in den Flugzeugen Köpfe sehen zu können. Das Gesicht der Mutter war verzerrt. Der Vater war zur Arbeit gefahren. Die Flugzeuge nahmen kein Ende. Ib war aus seinem Stühlchen gefallen, ehe die letzte Formation vorübergeflogen war. Obwohl er brüllte und Mutters Augenstern war, schien sie ihn nicht zu hören oder nicht auf ihn zu achten.
»Ist jetzt Krieg, Mutter?«
»Und dabei liebe ich doch alles, was deutsch ist. Aber damit muss ich jetzt aufhören. Dieser alberne Mann mit seinem blödsinnigen Schnurrbart, der aussieht wie ein Malerpinsel, wie können sie nur so dumm sein? Ja,
Weitere Kostenlose Bücher