Das Erbstueck
jetzt ist offenbar Krieg. Herrgott, was soll jetzt werden? Was wird dein Vater sagen?«
Gleich darauf sah sie, wie oft Ruby sich kratzte. Ruby wurde wieder auf die Treppe hinausgezogen, ins Licht, Krieg hin oder her. Die Mutter durchwühlte energisch die Haare, die noch mit keiner Schleife versehen waren.
»Läuse! Wo hast du die denn her? Das darf niemand erfahren! Komm her. Dagegen gibt es ja schließlich probate Mittel.«
Ib durfte ungehindert auf dem Boden herumkriechen, steuerte das Klavier an und zog sich auf die Beine. Er hämmerte auf die Tasten. Die Mutter ärgerte sich sonst immer schrecklich darüber, aber an diesem Tag ließ sie ihn gewähren. Im Badezimmer presste sie Rubys Kopf über das Waschbecken und rieb ihre Haare mit stinkendem Petroleum ein.
»Das tut weh, Mutter! Das tut weh! Das BRENNT!«
»Halt den Mund und zappel nicht.«
Sie massierte hart und eifrig, bis alle Haare etwas abbekommen hatten. Auch unten im Nacken und hinter den Ohren. Dann stülpte sie Ruby eine Badehaube aus Gummi über und strich mit einem Lappen am Rand entlang.
»Die behältst du jetzt zwei Stunden lang auf. Und du bleibst im Haus. Du stellst dich auch nicht ans Fenster.«
»Sterben alle, wenn Krieg ist? Werden die uns mit Bomben bewerfen?«
Die Mutter gab keine Antwort. Ruby saß ganz still auf einem Küchenstuhl und lauschte auf die Geräusche in der Badehaube. Ihre Ohren knackten. Das Petroleum verursachte kleine knisternde Geräusche, wenn sie Wangen und Nase berührte. Der Petroleumsgeruch mischte sich mit dem Bild der deutschen Flugzeuge. Probate Mittel. Ruby wusste alles über die probaten Mittel ihrer Mutter. Wenn sie Würmer im Bauch hatte, musste sie Terpentin schlucken. Das war schon einige Male vorgekommen. Als sie Spulwürmer am Mund gehabt hatte, hatte die Mutter die Würmer mit einem in Jod getauchten Holz bestrichen, und zwar in der Gegenrichtung zu der, in die sie krabbelten. Flöhe hatte sie auch schon gehabt, einmal, als sie bei Birte und Lizzi im Kirsten Kimersvej in einem alten Kinderwagen gespielt hatte. Die Mutter hatte im Garten ihre Kleider verbrannt und Bett und Bettwäsche mit trockenem Sand gescheuert. Die Mutter sagte, sie dürfe nie mehr bei Birte und Lizzi spielen, aber danach hatte sie es noch unzählige Male getan. Und der Quillaia-Absud, gegen Schleim in der Lunge. Warum wusste Dasse nichts davon?
Und Anna hatte auch Läuse gehabt. Die Eltern hatten ihr den Kopf kahl geschoren, und sie hatte zwei Monate lang ein braunes Kopftuch aufsetzen müssen. Das bestickte sie mit Kreuzstichen und brauchte keine Haarschleife zu tragen.
»Mutter? Können wir sie nicht einfach abschneiden? Das BRENNT!«
Als Antwort verpasste die Mutter ihr eine Ohrfeige und ging zum klingelnden Telefon. Es war der Vater. Er war unterwegs nach Hause. Alle Familienväter durften zu Hause vorbeischauen, wo doch jetzt Krieg war. Ehe er den langen Weg von Frederiksberg zum Hellelidenvej geradelt war, war es Ruby schwindlig geworden, weil ihre Kopfhaut brannte und weil das Petroleum stank.
»Was riecht denn hier so?«, war seine erste Frage.
»Deutsche Flugzeuge«, antwortete Ruby.
»Sie hat sich Läuse geholt«, sagte die Mutter. »Aber Ib ist Gott sei Dank sauber.«
Der Vater erzählte, dass es in der Stadt von marschierenden und singenden Soldaten nur so wimmelte.
»Überall hängen Plakate«, sagte er. »Wir sollen uns ruhig verhalten und der Besatzungsmacht gehorchen, die gekommen ist, um uns zu beschützen. Mach das Radio an.«
Ib wurde ins Bett gesteckt, während die Eltern vornübergebeugt vor dem Radiokabinett saßen und horchten.
»Wie viel ist von den zwei Stunden noch übrig?«
»Sei jetzt still«, sagte der Vater.
Als ihr die Mutter endlich die Badehaube vom Kopf riss und sie auf den Boden warf, stand Ruby kurz vor einer Ohnmacht. Sie musste sich mit aller Macht darauf konzentrieren, in ihrer unendlichen Erleichterung nicht loszupissen. Die Mutter wusch ihr wütend den Kopf mit grüner Seife und spülte zahllose Male nach.
»Die Schleife können wir noch nicht gebrauchen«, sagte die Mutter.
Mit offenen Haaren durfte sie zu Anna laufen. An diesem Tag war alles anders. Der Himmel lag leer und blassblau über ihnen, ohne schwarze Kreuze, aber überall waren Männer auf Fahrrädern zu sehen. Väter, die von der Arbeit nach Hause durften, um über den Krieg zu sprechen. Sie machten ernste Gesichter und fuhren schneller als sonst. Herr Fuchs war schon zu Hause, und die Mutter hatte geweint.
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