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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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am Wochenende Schnaps trinken. Unter der Woche begnügte er sich mit Bier, das in einer mit Wasser gef üllten Zinkbütte im Schatten lag. Davon schien er nicht betrunken zu werden. Er war alt und hatte ein braunes Gesicht mit
braunen kleinen Warzen an den Ohren, genau wie Tante Oda. Sicher waren die ansteckend. Wenn er sich wusch, nahm er nur kaltes Wasser, und er beugte seine behaarten Schultern über die Waschschüssel. Er pustete ins Wasser und in die Hände, sodass der Boden bespritzt wurde, und er klatschte sich Wasser unter die Arme und stieß dabei witzige Geräusche aus. Er schnitzte für Ruby Holzschuhe. Es tat weh, darin zu laufen, aber ihr gefiel das Geräusch auf den Steinplatten. Es war ein lautes Geräusch, so als schlage jemand mit den Fäusten gegen eine Wand.
    Die Laube war viereckig und hatte weder Dachboden noch Keller. Es war ein Haus, über das Ruby den vollen Überblick hatte. Das Dach war flach und mit Dachpappe belegt. Man hörte die Vögel darüber trippeln, die Zweige streiften es, und es roch immer wunderbar nach Teer. Das Haus hatte nur ein Schlafzimmer. Onkel Dreas schlief im Schuppen, wenn Ruby kam. Sie durfte neben Tante Oda liegen. Auf deren Atem horchen, den breiten Rücken betrachten, der in einem Flanellnachthemd neben ihr hochragte. Nachts benutzte die Tante ein Haarnetz, die platt gedrückten Locken sahen aus wie ein Bild. Und vielleicht hing an einer der Warzen auf ihrem Hals ein Stück Nähgarn.
    Hinter der Küche hielt Onkel Dreas Tauben. Sie sollten verzehrt werden, und deshalb durften sie nicht losfliegen und aufpicken, was ihnen gerade passte. Onkel Dreas fütterte sie mit Mais und Haferflocken. Sie gurrten, solange es hell war. Wenn es Abend wurde, sanken sie in sich zusammen und quollen auf, schoben den Kopf tief in die Federn und verstummten. Kein Fuchs kam und brachte sie um, wie das mit den Hühnern von Lagerfeldt in der Nachbarlaube passierte, wenn er vergaß, sie in den Stall zu sperren, ehe die Sonne untergegangen war.
    Tante Oda sah immer nach, ob Lagerfeldt eingeschlafen war, wenn sie mit Ruby zum Brunnen ging. Dann warf sie Steine gegen sein Fenster und rief: »Die Hühner, Feldt! Die Hühner haben Angst vor dem Fuchs!«
    Das Wasser im Brunnen war immer eiskalt, auch als die Tage
wärmer wurden, als der April in den Mai überging. Um den Brunnen versammelten sich die Frauen, während der Himmel in flammenden Farben loderte. Sie klatschten und lachten und redeten über die idiotischen Deutschen, die von Haus zu Haus gehen wollten, um Radios einzusammeln, und sie tauschten Pflanzen und Ableger und Samenkörner.
    »Aber unser Radiogrammofon holen sie doch nicht?«, fragte Ruby.
    »Das tun sie bestimmt«, erwiderte Tante Oda.
    »Aber warum?«
    »Die Deutschen wollen alles bestimmen, was man hört und glaubt. Sie wollen nicht, dass wir auf England hören.«
    »Aber die Platten? Das sind doch deutsche!«
    »Deine Mutter versteckt sie bestimmt in der Matratze.«
    Die Vorstellung, dass die Mutter auf Zarah und Marlene schlief, war für Ruby eine Beruhigung. Doch als das Wochenende kam und die Laube sich mit Schnaps und Akkordeonmusik und Zigarrenrauch und Kartenspiel und Gerede füllte, hatte sie wieder Angst. »Jetzt fängt das Bacchanal an, da laus mich doch der Teufel!«, rief Onkel Dreas, und sie stießen an und verfluchten die Deutschen und die Soldaten, die für den Teufel persönlich den Nickaugust machten. Ruby fing an, das Wort »Soldat« zu hassen, obwohl die erste Silbe doch einen lustigen Klang hatte. Die Männer tranken, bis sie anfingen, sich wegen der Karten zu zanken, und Tante Oda schimpfte und drehte die Ozonlampe an. Das brauche sie im Alltag nicht. Die Ozonlampe hatte hinten eine Schale mit einer patinagrünen Flüssigkeit. Dann sammelte sie die Gläser ein und sagte, es sei ja kein Wunder, dass auf der Welt Krieg herrsche, wenn gute Freunde sich über einer Runde Mau-Mau in die Haare geraten könnten. Dann lag Ruby im Bett und horchte und wartete. Wenn sie sie rufen hörte, der Fuchs habe Lagerfeldts Hühner allesamt geholt, und wenn sie ihn antworten hörte, das sei ja wohl schnöde gelogen, dann wusste sie, dass das Fest ein Ende nahm und dass Tante
Oda bald kommen und die Welt wieder in Ordnung bringen würde.

    Sie durfte sich ihren eigenen Küchengarten anlegen, mit Tomaten und Zwiebeln und Möhren. Onkel Dreas zog Tabakpflanzen, die er an der Hauswand befestigte. Dabei verfluchte er Hitler ununterbrochen. Er hasste die Vorstellung, nicht mehr

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