Das Erbstueck
In der einen Hand hielt sie Papierstreifen mit heiligen Worten aus dem Talmud. Die Papierstreifen waren zerknittert und feucht, als habe sie vergessen, dass sie sie in der Hand hatte. Das Haus roch nach gebratenem Fisch und Möbelpolitur.
»Ich hatte Läuse, aber jetzt sind sie weg«, flüsterte Ruby Anna zu.
»Trägst du deshalb keine Schleife?«
»Nein, weil Krieg ist. Hast du die Flugzeuge gesehen? Was das wohl für ein Gefühl ist, so hoch oben zu sitzen? Gehen wir zum Strand?«
Vom Strand aus konnten sie zum Flughafen hinüberblicken. Ununterbrochen starteten und landeten dort drüben Flugzeuge. Niemand spielte im Sand. Der Strand war leer.
»Ich will nicht deutsch werden«, sagte Anna.
»Ich weiß viele deutsche Wörter«, sagte Ruby. »Die sind nicht schwer, wenn man übt, und wenn man Musik dazu hört. Aber ihr habt ja kein Grammofon, ihr habt nur das Radio.«
»Wenn wir in die Schule kommen, lernen wir vielleicht gar kein Dänisch mehr. Wo doch die Deutschen gekommen sind.«
»Das passiert doch erst im Herbst«, sagte Ruby. »Und Dänisch können wir ja schon.«
»Aber du darfst nicht verraten, dass du Läuse hast, Ruby. Ich will nicht geschoren werden.«
»Das wirst du ja doch. Eines Tages.«
»Das dauert noch lange. Und dann sind wir tot. Die Deutschen
haben bestimmt ganz Amager bombardiert. Auf jeden Fall Kastrup. Und wenn die Bombe groß genug ist, kommt das Feuer auch zu uns. Aber das passiert so schnell, dass wir es nicht merken, wir haben keine Zeit mehr, uns zu fürchten. Und dann kommen wir in den Himmel.«
»Hat dein Vater das gesagt?«
»Ja. Aber du darfst nicht verraten, dass du Läuse hast.«
»Die hab ich jetzt nicht mehr. Meine Mutter hat sie ausgewaschen. Meine Mutter hat probate Mittel.«
Annas Mutter rasierte sich den Kopf. Sie trug zu Hause ein Kopftuch, über Kochtöpfen und Waschschüsseln und der Menora, die immer wieder geputzt werden musste. Sie hatte Kopftücher in verschiedenen Farben, das für den Sabbat war schwarz und hatte einen Goldrand. Wenn sie nach Kopenhagen hineinfuhr, setzte sie sich eine Perücke und einen Hut auf. Wenn Anna älter würde, dürfte sie auch keine Haare mehr auf dem Kopf haben. Ruby wäre viel lieber Jüdin gewesen als goj. Keine Läuse, keine Haarschleifen, keine grobe Bürste und keine Ohrfeigen, wenn sie nicht still saß. Aber es war seltsam, dass Annas Mutter den Schnurrbart behielt. Der war dunkelbraun, ganz deutlich zu sehen und überhaupt nicht hübsch. Er war so hässlich, dass Ruby mit Anna nicht darüber sprach.
»Laufen wir?«
Mit Wind im Mund zu rennen. Ein leichter Salzgeschmack unter dem Gaumen. Das hellgraue Wasser auf der einen Seite, auf der anderen Schatten von Sand und Strandhafer. Ruby rannte, bis ihr die Brust wehtat. Anna lag weit hinter ihr.
Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Die waren sauber und glatt. Die Sonne stand noch am Himmel. Die Kniestr waren ihr auf die Knöchel gerutscht. Sie streifte sie abümpfe und bohrte die Zehen in den Sand, bis sie die Feuchtigkeit spürte. Anna holte sie ein. »Meine Mutter hat verboten, dass ich die Strümpfe ausziehe«, sagte sie. »Das darf ich erst später. Man
kann einen Kälteschlag und Bazillen bekommen, und dann muss man Nähnadeln pissen.«
»Ich darf das auch nicht. Aber die Bombe bringt uns doch sowieso um. Komm, wir laufen durchs Wasser.«
D er Krieg wurde anders, als sie erwartet hatte. Nachdem sie drei Nächte hintereinander von deutschen Flugzeugen geträumt hatte, durfte sie zu Tante Oda und Onkel Dreas fahren. Dreas war eigentlich der Onkel der Mutter. Sie wohnten das ganze Jahr über in ihrer Laube in der Schrebergärtenkolonie. Tante Oda fuhr jeden Tag mit dem Rad zum Café Takstgrensen, wo sie für die Gäste turmhohe Butterbrote schmierte, während Onkel Dreas zu Hause blieb. Er stellte im Gartenschuppen Holzschuhe her. Als sein Rücken noch gut gewesen war, hatte er das in einer Fabrik gemacht. Deshalb durfte Ruby sie besuchen. Die Mutter wollte sie nicht zu Hause haben. Sie wolle sich ausruhen, sagte sie, und Ib sei anstrengend genug. Der Vater protestierte, aber das half nichts.
»Gönn mir doch eine Weile Ruhe vor der Göre«, hörte sie die Mutter in der Küche sagen. Und der Vater antwortete: »Auch kleine Wesen haben große Ohren.«
»Das weiß sie. Dass ich sie satt habe. Sie beißt sich doch die ganze Zeit nur in die Knie und macht sich schmutzig und füllt Strümpfe und Schuhe mit diesem verdammten Sand.«
Onkel Dreas durfte nur
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