Das Erbstueck
auch.«
»Das muss zurückgezahlt werden, Malie.«
»Nicht unbedingt.«
»Das soll doch wohl nicht heißen... Tutt kommt so oft zu uns, und ich schaue ihr in die Augen, und sie hat die ganze Zeit gewusst,
dass wir mit einer Lüge leben. Und Erik hat dich den Krieg hindurch mit Martini voll gegossen und Essen für deine Theaterleute mitgebracht, und jetzt glaubst du, das könnte immer so weitergehen? Glaubst du, ich will sie jemals wiedersehen?«
»Aber Erik hat doch keine Ahnung!«
»Und ich sollte ja offenbar auch nichts erfahren.«
»Nein.«
»Ihr habt herzlich über mich gelacht, du und Tutt, was? Nein. Du kriegst nichts mehr zu trinken.«
Die Mutter kam in den Garten und entdeckte Ruby sofort. Die war jetzt zu groß, sogar für die ausgewachsenen Rhabarberblätter. Sie sprang auf und lief zu Frieds Käfig, setzte ihn hinein und legte rasch den Haken vor.
»Zeig mal deine Uhr«, sagte die Mutter.
Ruby streckte den Arm aus. Der Vater stand weit weg, an der Gartentür. Die Mutter öffnete den Schnappverschluss und riss die Uhr an sich.
»Du bist viel zu klein für so eine Uhr. Ich werde sie verwahren, bis du erwachsen bist.«
»Aber Mutter!«
»Willst du mir widersprechen? Willst du unverschämt sein? Ich bin für deine Erziehung zuständig, nicht Tante Oda. Und sie ist übrigens gar nicht deine Tante. Sondern meine. Sie ist meine Tante. Also bild du dir ja nichts ein!«
Die Mutter versprühte Speichel, wenn sie redete. Der Vater stand einfach nur da. Was war schon eine kleine Armbanduhr gegen tausend Kronen?
Es war eine Erleichterung, noch in derselben Nacht an Scharlach zu erkranken. Ihr ganzer Körper war mit Ausschlag bedeckt, und ein hohes Fieber ließ sie in Fantasien versinken. Sie wies Affen mit lila Zahnfleisch zurecht und flog mit ausgestreckten Armen
hoch über dem 0resund, und tief unten im Bett hörte sie einen pfeifenden Zug, der an jedem Bahnhof hielt, wo Leute winkten. Das Gesicht des Arztes, der am nächsten Tag kam, sah aus wie das eines Wolfs. Schmale Augen und Fell auf den Ohrläppchen. Sie schlug wild um sich und wollte nicht von ihm verschlungen werden. Der Vater musste sofort kommen und den Bauch des Arztes mit Wackersteinen füllen. Sie wollte dem Wolf sagen, dass ihr Herz wehtat, aber sie brachte kein Wort heraus. Sowie der Arzt verschwunden war, wurde sie in glühend heißes Wasser gelegt und ihre Stirn mit einem eiskalten Lappen bedeckt. Als sie wieder zu sich kam, war mehr als eine Woche vergangen. Die Schule hatte angefangen. Sie konnte nicht auf ihren Beinen stehen. Ib saß am Fußende des Bettes und zitierte die Mutter: Sie sei über das Ärgste hinaus und jenseits der Ansteckungsgefahr. Der Vater las ihr Andersens Märchen vor und gab ihr Zuckerwasser zu trinken. Während sie auf die liebe Stimme des Vaters horchte, dachte sie: Ich werde nie mehr weinen, aus keinem Grund.
Nicht einmal als Fried kurz vor Weihnachten starb und die Mutter scherzte, sie würden in diesem Jahr das Geld für den Entenbraten sparen können, weinte sie. Der Vater grub für Fried ein Grab, Ibs namenloses Kaninchen war schon vor langer Zeit gestorben. Sie weinte nie, wenn die Mutter sie schlug, und auch nicht, wenn der Vater sie später tröstete und das Weinen doch endlich gut getan hätte. Trost ohne Weinen hatte keinen Sinn, und deshalb wollte sie keinen. Sie sagte das auch. »Ist schon in Ordnung, Papa, lass sie doch.«
Sie bekamen einen neuen Lehrer. Albert Andersen, mit einem großen A im Siegelring. Wenn er mit dem Handrücken zuschlug, war das A noch tagelang auf der Wange der Sünderin zu sehen. Er schlug Ruby, als sie zugab, dass sie den Kaugummi an das Treppengeländer geklebt hatte. Er schlug sie, weil sie nicht sofort gestanden hatte. Mit steifem Nacken musste sie den Rest der Stunde durchhalten. Sie vergoss nicht eine einzige Träne. Der
Schmerz saß in den Waden, wie sie feststellte. Nicht zu weinen löste einen dumpfen Schmerz in den Waden aus.
Die Mutter schlug jetzt aus anderen Gründen als früher. Es gab fast nie mehr Feste im Haus, und wenn sie Menschen sehen wollte und keine Möglichkeit dazu hatte, dann setzte es eine Ohrfeige, wenn den Kindern auch nur ein Brotkrümel auf den Boden fiel. Ib war dauernd schmutzig, seine Kleidung war zerfetzt, und er wurde für jeden Riss und jedes Sandkorn geschlagen, das in der Diele auf dem Boden landete, Ruby gab jetzt freche Antworten, nachdem sie plötzlich entdeckt hatte, dass Unverschämtheit nicht zu Schlägen führte, sondern
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