Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
Vom Netzwerk:
zu hysterischem Heulen und endlosen Tiraden über das schreckliche Schicksal, mit einer dermaßen untauglichen Tochter gestraft zu sein. Die Mutter schlug jetzt wegen Kleinigkeiten. Große Anlässe brachten vorhersagbare Hysterie und darauf folgende Isolation im Schlafzimmer, wo die Mutter hinter zugezogenen Vorhängen lag, den Aschenbecher neben sich auf dem Nachttisch.
    Ruby biss die Zähne zusammen, wenn die Mutter weinte, denn sie wollte nicht laut loslachen. Sie trat vor den Spiegel, stemmte die Hände in die Seiten, horchte auf das halb erstickte Wimmern der Mutter, das durch die Schlafzimmertüren drang, und schwenkte ihren Körper hin und her. War sie schön? Nein. Ganz hübsch. Vielleicht. Kleine Brüste drängten sich gegen den Stoff des Kleides, und die Jungen pfiffen oft hinter ihr her. Aber die pfiffen ja bei allem, was Röcke trug. Sie stahl in der Küche ein Ei, trennte Eiweiß und Dotter und formte sich mit dem Eiweiß auf jeder Wange zwei Narrenlocken. Die Locken saßen wie festgeklebt und hatten einen etwas dunkleren Farbton als die restlichen Haare. Sie weigerte sich, die Haarschleife zu tragen. Sie ärgerte sich über ihre Augenbrauen, die weiß wurden, wenn sich die Haut in der Sonne bräunte, und färbte sie mit einem Koksstück. Sie zog den Gürtel stramm um ihre Taille und rollte die Söckchen um ihre Fesseln zu kleinen Würsten. Sie ging ganz gerade und versuchte, ihre Füße so zu setzen, wie die Mannequins
das taten. Sie bat die Mutter niemals wieder um die Armbanduhr. Diese Freude wollte sie ihr nicht machen. Sie freundete sich mit Sofie Holgersen aus dem Per Doversvej an, die ein Einzelkind war, und wurde von deren Familie in den Vergnügungspark Dyrehavsbakken eingeladen, an einem Sonntag Anfang Mai. Sie hätte den Vater um Erlaubnis gebeten, aber der war mit dem Fahrrad unterwegs. Das machte er jetzt oft und lange, um sich den Wind durch die Haare wehen zu lassen, wie er sagte. Er war fast kahl.
    Die Mutter sagte Nein. Holgersens seien keine anständigen Menschen. Holgersen fahre im Rausch Taxi.
    »Dann nicht«, sagte Ruby und lief aus dem Haus.

    Zuerst besuchten sie Peter Lipps Haus. Das Restaurant war weiß gekalkt, hatte Bogenfenster und ein dickes Strohdach, und auf der steinernen Terrasse vor dem Lokal standen elegante, wackelige Tische und Stühle. Ruby und Sofie steckten die Köpfe zusammen und kicherten über alles, was sie sahen, woran sie dachten und worüber sie sprachen. Herr Holgersen kaufte Limonade für alle, und sie tranken vorsichtig, mit vorgeschobenem Kinn, um nicht auf ihre Kleider zu tropfen.
    »Ihr seid ja wirklich zwei reizende junge Damen geworden«, sagte Frau Holgersen.
    »Brote wollen wir nicht«, sagte Sofie. »Damit machen wir uns nur schmutzig.«
    »Die werden wir schon runterwürgen können«, sagte Herr Holgersen und hob sein Bier zum Mund. Das Schnapsglas wartete davor in der Luft. Die Hand, die es hielt, zitterte.
    Er spendierte eine Kutschfahrt durch den Buchenwald. Sie hielten Ausschau nach Hirschen und Rehen, sahen aber keine. Das machte nichts. Die Sonne bohrte sich durch himmelhohe Baumkronen. Die Pferde waren kohlschwarz und glänzten, und sie hatten gebürstete Schwänze und Seidenbänder in der Mähne. Auf dem Waldboden leuchteten Pferdeäpfel und Maiglöckchen.
An einer Losbude gewann Ruby Ohrringe, die aussahen wie Silbersterne. Sofort steckte sie sie an, und Sofie sagte:
    »Du siehst aus wie zwanzig.«
    So fühlte sie sich auch.
    Sie machte einen Knicks, als sie sich im Strandvej trennten. »Tausend Dank für einen wunderschönen Tag, Herr und Frau Holgersen.«
    »Das war reizend und höflich gesagt«, erwiderte Frau Holgersen. »Du machst deiner Mutter wirklich alle Ehre.«

    Sie wurde durch die Küchentür am Nacken gepackt, noch ehe sie die Schuhe abgestreift hatte. Auf dem Boden lagen Zeitungen. Es roch nach heißer grüner Seife. Irgendwo im Haus weinte Ib. Das Fahrrad des Vaters stand nicht im Ständer.
    »Was hast du in den Ohren? Und wo hast du dich herumgetrieben? Du ... Dirne! «
    »Im Bakken. Lass mich los, Mutter.«
    »Im Bakken? Und das soll ich dir glauben, so, wie du aussiehst?«
    »Mit Sofies Familie. Und die Ohrringe hab ich in der Lotterie gewonnen.«
    Ihre Kopfhaut brannte. Ihre Mutter presste sie zu Boden.
    »Wirklich. Ich hab nichts verbrochen!«
    »Nichts verbrochen? Du bist doch hingegangen!«
    »Papa hätte es mir erlaubt.«
    »Dein Papa. .. du mit deiner Babysprache. Und hier bestimme ich. Er ist überhaupt nicht

Weitere Kostenlose Bücher