Das Erbstueck
wirkten ordentlich und ein wenig ängstlich und gingen mit kleinen, leisen Schritten über den Gang und drückten ihre Taschen an sich. Sie wollte nicht zu viel Energie in den Versuch stecken, sich mit ihnen bekannt zu machen. Die Vorstellung, dass jederzeit Fremde ihr Zimmer betreten konnten, war wirklich nicht verlockend.
Die Tauben flogen und flogen und kamen nicht zur Ruhe. Wenn sie ihre Sache sehr gut machte, könnte sie darum bitten, in die Fernsprechabteilung versetzt zu werden. Ein wenig Französisch und Englisch konnte sie ja, das verdankte sie dem Internat, und Deutsch sprachen sie alle. Die Zahlen waren das Wichtigste. Die Nummern.
»Un deux trois quatre, one two three four, five, six, fiftysix, just a moment, please, un moment, s’il vous plaît, einen Moment, bitte ...«
Endlich machte sich das viele Büffeln bezahlt, diese viele Lernerei, das Brüten über den Schulbüchern. Ruby widmete den Lehrern, die sie gehasst hatte, einen dankbaren Gedanken. Bedeutete das alles nun, dass sie glücklich war? Sie spuckte sich einen Traubenkern in die Hand und betrachtete ihn. Einen Keim mit der Möglichkeit, zu einer üppigen Rebenranke zu werden. Sie wollte ihn in Blumenerde einpflanzen und auf die Fensterbank stellen.
E r hatte so viele Haare auf den Armen, dass sie aus seinen gestärkten Manschetten herauslugten. Das allein fiel ihr an ihm auf, abgesehen davon, dass alle Telefondamen erröteten, wenn er in einer Mischung aus gebieterischem und schmeichelndem Tonfall auf sie einredete. Dieser wahnwitzig wilde Haarwuchs vor dem kreideweißen, gezähmten Stoff – dieser Kontrast wollte ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte Lust, die Manschetten zu öffnen und mit den Fingern über die Haut zu fahren, über das Fell. Dieser Gedanke machte ihr schreckliche Angst. Sie wich dem Gespräch mit ihm aus und sah ihn nicht an. Ob er sich deshalb auf sie konzentrierte? War es das Ausweichen, das Männer faszinierte? Eines Nachmittags erwischte er sie allein auf dem Gang. Sie war auf dem Heimweg in ihr Zimmer. Er presste sie an die Wand. Sie konnte ihm einfach nicht ins Gesicht schauen. Seine Augenbrauen waren buschig wie Berberitzensträucher. Sein Mund war ein feuchter Spalt mit einer helleren Zungenspitze, die er in ihren Mund steckte. Von seinen Lippen merkte sie nichts. Es gab nur seine Zunge, die sich in sie hineinbohrte, hart, und die hin und her wackelte. Sie saugte mit der Nase Luft ein, stieß mit ihrer Zunge energisch gegen seine und presste die Lippen aufeinander. Er ließ sie los.
»Ach, was, du willst nicht? Ich habe schon gemerkt, dass du mit mir spielst, kleines Fräulein Thygesen.«
»Hau bloß ab! SCHWEIN!«
Am nächsten Tag blieb sie im Bett. Der Ekel wich der Erregung, die die Erinnerung an die zielstrebige Zunge auslöste. Ob er sie liebte? War das ein Kuss gewesen? Aber trotzdem wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er war ein dummer kleiner Chef. Nicht er hatte zu bestimmen. Sie würde zu denen gehen, mit denen sie das Bewerbungsgespräch geführt hatte, und darum bitten, in die Fernsprechabteilung versetzt zu werden. Der Mann sollte sich doch bloß nichts einbilden!
Sie stand auf, ging zur Arbeit, entschuldigte sich mit Fieber und wandte sich ab, als der Pelzaffe durch den Raum schritt. Sie erkannte seine Schritte, und es erregte sie, dass er hinter ihr stand, deshalb verschwamm alles vor ihren Augen, und sie legte ein Gespräch nach Sundby statt nach Amager. Eine Stunde vor Feierabend ging sie zur Verwaltung und sagte, jetzt, nach zwei Monaten, fühle sie sich im Stande, bei den Ferngesprächen zu beginnen.
»Du meine Güte, da haben wir ja eine ehrgeizige junge Dame. Aber Sie müssen zuerst einen mündlichen Sprachtest bestehen.«
Und es war als selbstsichere, neunzehn Jahre alte Ferngesprächsdame, durch deren Kopf Zahlen und Adressen in vielen Sprachen schwirrten, dass sie Håvard kennen lernte, als sie mitten auf dem Hojbro Plass bei strömendem Regen stürzte, nachdem sie Käse-Erik besucht und von ihm ein Stück holländischen Edamer bekommen hatte. Der Fremde las sie vom Boden auf, mit Tüten und Tasche und triefnassem Halstuch und dem einen abgefallenen Schuh. Er trug sie mehr oder weniger in den Durchgang zum Antiquitätenverkauf der Porzellanfabrik, wo sie vor dem Regen geschützt waren. Sie bat ununterbrochen um Entschuldigung. Er sprach so seltsam, er konnte kein Däne sein. Und als er sich als Håvard Satsås vorstellte, wusste sie, dass sie es mit einem Norweger zu tun
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