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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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Vaters und überreichte es im Büro der Kopenhagener Telefongesellschaft AS. An dem Abend, an dem im Café Takstgrensen ihr 18. Geburtstag gefeiert wurde, weil die Mutter zu Hause kein Fest veranstalten mochte, und weil es im Garten natürlich zu kalt war, erzählte sie alles. Die Mutter brach in lautes Jammern aus, der Vater verstummte, und Ib setzte sich sofort auf Rubys Schoß und flüsterte: »Und ich kriege ein eigenes Zimmer. Danke, Schwesterherz.«
    »Aber mein kleines Mädchen, willst du wirklich deine Mutter verlassen? Das meinst du doch nicht im Ernst? Ruby, mein Schatz, das geht nicht. Das darfst du nicht. Das wäre lebensgefährlich. Du bist nicht reif genug, um allein zu wohnen.«
    »Und wie alt warst du? Als du...«, setzte Onkel Dreas an.
    »Das war damals! Ich war viel reifer als Ruby! Ich wusste alles über das Leben. Viel zu viel, leider.«
    Die Mutter schluchzte und warf sich fast über den Tisch. Der
Vater streichelte ihren Rücken, eine seltene Liebkosung. Ruby schluckte und schluckte. War es denn möglich, dass ihre Mutter doch etwas von ihr wissen wollte?
    Aber als sie nach Hause kamen und die Mutter kein Publikum mehr hatte, klang es plötzlich ganz anders.
    »Wie konntest du! Vor allen Leuten! Und ich saß da wie eine Idiotin und wusste von nichts! Eine Mutter muss so etwas wissen. Ich werde dir nie verzeihen! Und ich hoffe, das Zimmer ist möbliert, denn von hier bekommst du nichts, wir brauchen alles selber, wo dein Vater sich nie etwas Neues leisten kann.«
    »Es ist möbliert. Ich brauche nur Bettzeug.«
    Die Unterschrift des Vaters bekam sie am nächsten Tag, zusammen mit fünfzig Kronen, von denen die Mutter nichts erfahren durfte.

    Sie feierte die erste Nacht in ihrem eigenen Heim mit einer ganzen Schale voll Trauben und Kerzen. Sie saß an ihrem eigenen Fenster und schaute hinaus auf den 0rstedspark, wo eine Taubenschar mit scharfem Flügelschlag aufflog. Sie sahen aus wie ein getupftes Tuch, das im Wind wehte. Der Strand würde ihr fehlen. Die Möglichkeit, jederzeit hinlaufen zu können. Aber auch im Internat hatte sie ja ohne überlebt. Und die Arbeit war das pure Kinderspiel: mit Hilfe eines Doppelsteckers die Kundschaft mit der Zentrale zu verbinden. Als Telefondame Ruby Thygesen würde sie einen professionellen und gleichgültigen Tonfall für ihr ja bitte einüben.
    »Ja bitte, bitte«, flüsterte sie und stopfte sich eine Traube in den Mund.

    Das Zimmer war braun und dunkel und eng, und an der Wand hing ein Gemälde, das einen Ausschnitt der Insel Lolland zeigte. Das stand darunter.
    »Mein erstes Zimmer war noch kleiner«, sagte der Vater, als er sie mit Decke und Kissen in die Stadt brachte. Die Mutter
hatte nur geschnaubt, als sie gefragt hatten, ob sie mitkommen wolle. »Mich wirst du nicht so schnell als Gast erwarten können.«
    Ehe er nach Hause fuhr, nahm der Vater sie in den Arm und flüsterte mit tränenerstickter Stimme: »Ich habe immer nur dein Bestes gewollt, Ruby. Immer. Aber ich habe es nicht erreicht. Ich habe deine Mutter einmal geliebt, ich habe sie jeden Abend auf der Bühne gesehen und ihr Blumen geschickt, bis sie mich in ihre Garderobe einlud. Und ich habe dich geliebt, vom ersten Moment an, in dem ich dich gesehen habe. Ich hätte so gern...«
    »Ich weiß, Papa. Sei nicht traurig.«
    Er hielt sie noch immer an sich gedrückt, ließ nicht los, als habe er Angst, sein Gesicht zu zeigen. Sie dachte an die verräterische Traubentüte in ihrer Tasche und daran, dass sie sich auf das Alleinsein freute, während er so traurig war. Sie schob ihn vorsichtig von sich fort.
    »Ich schaff das ganz bestimmt, Papa. Deine Brille beschlägt.«
    Sein Rücken war krumm und alt, als sie die Tür hinter ihm schloss. Das Leder seiner Absätze war zu einem helleren Farbton abgenutzt.
    »Ich besuche euch doch«, sagte sie.
    Er nickte, ohne sich umzudrehen. Sie schloss ab und lächelte. Das Zimmer war zu klein, um Platz für schlechtes Gewissen zu haben, jedenfalls an diesem Abend. Sie öffnete das Fenster, kehrte der Stadt den Rücken, wandte sich ihrem Zimmer zu, dem Paradies.

    Ein Waschbecken mit Rissen im Porzellan zeugte vom wilden Leben früherer Telefondamen. Es gab kaltes und heißes Wasser. In der Toilette draußen auf dem Flur lief dauernd das Wasser, und beim Spülen seufzte der Spülkasten zuerst vor Erleichterung, dann hatte Ruby den Eindruck, dass der halbe 0resund über sie hereinbrach.
    Die anderen Damen, die hier wohnten, waren so jung wie sie
selber. Sie

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