Das Erbstueck
Vater wollte sie an sich ziehen und streckte die Arme aus. Aber die Mutter sprang auf, warf sich in seine Arme und schluchzte hysterisch.
»Wir gehen«, sagte Ruby und erhob sich. »Jetzt sofort.«
Am Tor begegnete ihnen Ib. Håvard gab ihm fünf Kronen. Dann rannten sie den ganzen Weg zum Bus.
»Du brauchst einen Pass und die Unterschrift deiner Eltern«, sagte Håvard atemlos.
»Ich gehe zu Papa in die Fabrik«, sagte sie. »Denk nicht daran. Ich bringe das schon in Ordnung. Du hast Papa gefallen, das ist das Wichtigste. Und es war nett von dir, Ib fünf Kronen zu geben, obwohl es viel zu viel war, er ist ein kleiner Lausebengel.«
Der Vater gab ihr außer den Papieren einen kleinen Kasten, als sie zum letzten Mal zu ihm kam und sich verabschieden wollte.
»Ich habe es selber bemalt. Es ist ein Mokkaservice, Vollspitze, für sechs Personen. Hast du keine Angst? Ich habe solche Angst um dich, mein Schatz.«
Er stand in seinem Malerkittel vor ihr, klein und verstaubt, mit schönen blauen Flecken an den Fingerspitzen.
»Angst? Er liebt mich doch.« Sie hätte gern hinzugefügt: »Und das andere ist nicht gefährlich, das riecht einfach nach Tang, und Tante Oda hat mir alles erklärt.«
»Aber ganz allein in einer fremden Stadt zu wohnen, Ruby ...«
»Ich wohne doch schon lange allein. Oslo ist sogar etwas kleiner als Kopenhagen. Ich habe Håvard. Wir werden ein Paar sein. Und dann heiraten wir.«
»Du könntest doch noch eine Weile hier bleiben. Wenn er dich besuchte.«
»Nein. Ich will weg von hier. Ich will seine Familie kennen lernen, mich an die Sprache gewöhnen.«
»Auch Oda macht sich Sorgen.«
»Mir hat sie davon nichts gesagt. Wir waren doch bei ihnen. Ihr hat er gefallen.«
»Håvard ist sicher ein netter junger Mann, das ist es nicht. Aber du bist noch so jung.«
»Ich bin erwachsen, Papa.«
Alle standen im Hafen, als sie losfuhren. Tante Oda und Onkel Dreas, der Vater, Ib, die Mutter. Sie hatten Geschenke gebracht, Kleider und Silberbesteck und Tischdecken. Das Gepäck nahm plötzlich gewaltige Ausmaße an. Håvard hatte sie ganz neu eingekleidet – mit einem Kleid und einem blassgelben Kostüm, einem Cape und Schuhen und einer Handtasche aus Nappaleder. Sie war eine Prinzessin, und Prinzessinnen weinen nicht. Die Mutter konzentrierte sich auf ihr Publikum und winkte übertrieben, schon lange, bevor das Schiff abgelegt hatte. Sie schrie ihre Liebeserklärungen und Ermahnungen und verlangte Ruby das Versprechen ab, entsetzliches Heimweh zu bekommen und sie bald zu besuchen. Ruby befand sich zehn Meter über ihr, wie auf einem Dachboden, und lächelte und winkte und sagte zu allem ja. Ib stand auch unten, dünn und groß und schlaksig, mit nackten Knien, die aussahen wie Knoten in einem Seil. Sie dachte: Ich habe keine Ahnung, was ich hier tue. Herrgott, was mach ich hier denn nur!
A n dem Tag, an dem ihre Schwangerschaft bestätigt wurde, fiel dichter Schnee. Dr. Holmes in der Dronningens gate nannte sie mehrere Male ganz bewusst und betont Fräulein. Ihr starres Gesicht hatte ihm schon klar gemacht, dass die Nachricht ihr nicht willkommen sein würde. Sie ging langsam durch den Schnee zur Straßenbahnhaltestelle am Bahnhof und legte sich nicht den Schal um die Haare, sondern ließ den Schnee darauf fallen und dort schmelzen. Håvard war in Kopenhagen und würde erst in drei Tagen zurückkehren. Zu Hause in der Pension in Frogner erwartete sie ein großes Zimmer mit eigenem Bad, das Håvard bezahlte. Sie wollten in zwei Monaten heiraten. Er hatte nichts dagegen, dass sie auch dann weiter arbeiten und nicht zur Zierde zu Hause herumsitzen wollte. Alles war perfekt.
Nur das hier nicht. Ein widerlicher Fötus. Der alles ruinierte. Obwohl Håvard nie den Strom in sie fließen ließ. Tante Oda musste ihr etwas verschwiegen haben. Zwei Wochen zuvor war sie glücklich gewesen und hatte sich darauf gefreut, seine Eltern kennen zu lernen. Jetzt lag hinter ihrer festen Bauchdecke ein Fötus, ein winziger kleiner Klumpen aus Fleisch und Blut, der ihre Träume in den Schmutz zog. Das erste Enkelkind seiner Eltern.
Das war im Grunde das Einzige, wovor sie sich fürchtete. Nicht vor der Begegnung, sie fürchtete sich, weil sie sie nicht sofort kennen gelernt hatte, als sie als seine Verlobte in Oslo eingetroffen
war. Das war unbegreiflich. Sie fragte Håvard, ob seine Mutter das Problem sei, doch er gab keine Antwort. Er war der einzige Sohn.
»Haben sie eine andere für dich im Auge?«
Sie
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