Das Erbstueck
spitzte Bleistifte und füllte das Tintenfass, sie wusch Unterwäsche und putzte den Fußboden, während Ruby sie tadelte, bis sie herzzerreißend weinte und behauptete, ihr Onkel aus Schonen werde kommen und Ruby mit einem dicken Stein totmachen.
Die Lehrer hasste sie, unter anderem, weil sie ihr kein Einzelzimmer gegeben hatten. Lehrer Poulsen war Vegetarier, hatte immer
eine Seifenschale voller Weizenkeime neben sich stehen und schlug mit seinem Zeigestock wild um sich, wenn jemand eine falsche Antwort gab. Die Jungen liebten ihn, weil er Fortpflanzungslehre gab, ein Fach, das zur Entlassung führen konnte, das wusste Ruby sehr wohl. Sie fand es widerlich, sich anhören zu müssen, wie ein Fötus wuchs. Allein das Wort Fötus war schon schlimm genug. Und dann das viele Blut, der Schleim und die Flüssigkeiten, die dabei eine Rolle spielten, es war zum Erbrechen! Die Vorstellung eines Storchs mit einem Kind in einem breiten Seidentuch, das aus seinem Schnabel hing, und der dann durch die Nacht zu einem wartenden Elternpaar flog, das das Kind geschehen machen wollte, war viel besser.
Lehrer Poulsen war verheiratet mit einer winzig kleinen Frau mit braunen Haaren, die ihren Kopf wie ein blanker Helm umgaben, sie waren an den Wangenknochen glatt abgeschnitten, und der Pony schien aus Glas zu sein. Alle nannten sie Püppi. Als Ruby Püppi zum ersten Mal auf dem Gang sah, stellte sie ihr ein Bein. Sie wusste nicht, wer diese Person war, und hielt sie für eine neue Schülerin. Zur Strafe gab es fünfzehn Hiebe mit dem Zeigestock auf die Fingernägel, was Ruby über sich ergehen ließ, weil sie noch immer darüber staunte, dass der hässliche Lehrer Poulsen mit der kleinen Püppi verheiratet war; dass sie sich vermutlich küssten und zusammen im Bett lagen und einander im Nachthemd sahen. An diesem Abend musste Yvonne Boden und Treppe zweimal putzen. Ruby war nicht zufrieden. Sie konnte noch immer Seifenflecken sehen.
Die anderen aus ihrer Klasse konnte sie nicht ausstehen. Die waren ungezogene Kinder, die von zu Hause weggeschickt worden waren, so wie sie selber. Freche Jungen und armselige Mädchen. Sich mit ihnen bekannt zu machen, über Frotzeleien und Verschwörungen gegen die Lehrer hinaus, das kam nicht in Frage. Die Vorstellung, sich ihnen anzuvertrauen, war ungeheuerlich. Die Wochenenden zu Hause wurden zu Lichtblicken, und Rubys Erwartungen wurden vorher himmelhoch gesteigert. Am
Sonntagabend waren die Erwartungen dem Erdboden gleichgemacht, und sie musste zurück in die Schule. Drei, vier Tage später fing sie wieder an, sich zu freuen.
Sie spielte mit dem Gedanken an Flucht. Es wäre nicht schwierig. Sie brauchte nur loszugehen, mit ihrer Tasche mit Kleidern. Aber wenn sie weglief, dann musste es gut durchdacht und für immer sein. Nählehre? Kochlehre? Einen Mann zum Heiraten? Letzeres verbot sich von selbst. Sie hatte noch nie einen Mann geküsst oder einen getroffen, der sie gern geküsst hätte. Und Geld hatte sie nicht. Das hätte sie dann stehlen müssen. Aber von wem? Stehlen und weglaufen. Irgendwo ankommen, ohne Papiere oder Zeugnisse. Nein.
Das Gute in ihrem Leben kam von Tante Oda. Sie holte sie an den Wochenenden ab, wenn Frau Mogens Thygesen mitteilte, sie könne ihre Tochter übers Weekend leider nicht zu Hause haben. Wie Tante Oda davon erfuhr, war für Ruby ein Rätsel. Sie fragte auch nie danach.
Und es war auf einer Führung durch das Schloss Rosenborg, mit Tante Oda, im Ballsaal, als Ruby, siebzehn Jahre alt, im Unterleib Schmerzen hatte und etwas Feuchtes, Tropfendes spürte. Sie schob die Hand nach unten und zog sie blutverschmiert wieder hoch. Sie stöhnte laut auf und hatte keine Lust, sich die Finger abzulecken. Trotz Lehrer Poulsens waghalsiger Fortpflanzungslehre hatte sie keine Ahnung, warum sie blutete. Poulsen baute seinen Unterricht auf das empfangene Kind auf, das im Mutterleib wachsen sollte, bis die Mutter von ihm entbunden werden konnte. Wie es dort hineingekommen war, geh örte zu den tausend Dingen, nach denen man nicht fragen durfte. Tante Oda zog sie mit neugierigem Blick aus dem Saal und nach Hause in den Schrebergarten. Onkel Dreas wurde in den Garten geschickt, um sein Bier zu gießen, und Tante Oda durchwühlte ihre Schränke und fand einige selbst gestrickte Binden. Ruby weinte, zum ersten Mal seit Jahren.
»Hat deine Mutter denn gar nicht mit dir darüber gesprochen?
Ich kann es nicht glauben. Ich weigere mich, es zu glauben. Dass sie nicht... bei ihrer
Weitere Kostenlose Bücher