Das Erbstueck
Möwen jagten mit hungrigen, bohrenden Schreien durch die Luft. An diesem Tag sahen sie aus wie weiße Windeln, die zum Trocknen in den Wind gehängt worden waren.
Sie gingen in Halvorsens Konditorei, dazu hatte sie plötzlich Lust. Sie hatten nichts geplant. Brote mit Lachs und Eiern, Sahnetorte mit einer roten Beere ganz oben, Schokolade mit Eiscreme.
»Frau Ruby Satsås, ich liebe dich!«, flüsterte er.
»Du hast einen Eisschnurrbart«, flüsterte sie zurück und verspürte einen winzigen Hauch von etwas, das vielleicht Liebe sein konnte. In diesem Moment gab es außer ihm keinen, mit dem sie zusammensitzen wollte. Und das war doch immerhin schon etwas.
»Danach fahren wir zu deinen Eltern«, sagte sie. »Jetzt will ich sie kennen lernen.«
»Willst du denn die Wohnung nicht sehen? Auch wenn sie noch nicht fertig ist?«, fragte er.
»Nein. Zuerst deine Eltern.«
»Na gut«, sagte er und schaute in eine andere Richtung.
Sie nahmen ein Taxi.
Das Haus war sechsmal größer als das ihrer Eltern zu Hause. Es war aus Stein und hatte Säulen und Erker und ein zwei Meter hohes Gartentor mit kleinen Steindrachen auf der Spitze, die den Eingang bewachten. Der Schnee war sorgfältig geräumt, mit scharfen Kanten. Eine Limousine stand hinter dem Tor. Gleich hinter dem Haus lag das Königsschloss, nicht umgekehrt, wie Håvard ihr zuflüsterte. Er verhielt sich ansonsten sehr seltsam. Ließ ihre Hand los, als sie das Tor erblickten. Zupfte sich am Kragen. Seine Stirn glänzte vor Schweiß, obwohl es viele Grade unter null waren und das Taxi nicht sonderlich gut geheizt war.
Ein junges Mädchen in dunklem Kleid und weißer Spitzenschürze öffnete. Ein Hund kam angesprungen und wedelte mit dem Schwanz. Håvard nannte ihn Lord und schob ihn weg.
»Ach, da ist der Sohn«, sagte das Mädchen. »Verzeihung, aber kommt er heute?«
»Ich wollte meine Mutter überraschen«, erwiderte Håvard und zog Ruby ins Haus. Das Mädchen lud sich die Mäntel auf den Arm und sagte: »Gehen Sie einfach in die Bibliothek, ich sage ihr, dass der Sohn gekommen ist. Sie ist hinten in der Gärtnerei.«
»In der Gärtnerei? Habt ihr eine eigene Gärtnerei? Ich dachte, ihr hättet nur den Holzhandel«, flüsterte Ruby.
»Wir verkaufen auch nichts davon. Mutter züchtet Orchideen. Die... die sind ihr wichtiger als Menschen. Nein, vergiss, dass ich das gesagt habe.«
Sein Schweiß lief jetzt in Strömen. Er wich ihrem Blick aus, berührte sie nicht. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Sie war fast außer sich, etwas stimmte auf entsetzliche Weise nicht. Eine Lüge schien zwischen ihnen zu schweben, und diese Lüge stammte nicht von ihr.
Sie richtete ihre Blicke auf einen kupfernen Rokokotisch, der von tiefen Chesterfieldsesseln umgeben war. Auf dem Tisch stand ein Pfeifengestell. Es half, an Onkel Dreas zu denken, er wäre von diesem Gestell begeistert gewesen und hätte jede einzelne Pfeife an sich gerissen, um den Zug zu testen.
Frau Satsås betrat lächelnd die Bibliothek, lief auf Håvard zu und küsste ihn auf beide Wangen. Ruby kam das sehr unnorwegisch und oberklassenmäßig vor. Sie hielt noch immer den Rosenstrauß in der Hand.
»Und wer ist wohl diese junge Dame?«
»Das ist Ruby, meine... Frau, Mutter. Seit heute Morgen um elf.«
»Nein, was du nicht sagst, wie reizend!«
Frau Satsås drückte sie an sich, rasch und hart, ohne ihr Lächeln einzubüßen. Sie duftete nach Erde und feuchtwarmer Luft. Ihre Schmuckstücke klirrten, wenn sie sich bewegte.
»Ich habe Else gebeten, den Tee im Winterzimmer zu servieren. Also, gehen wir.«
Frau Satsås ging voraus, öffnete wortlos eine riesige braun gebeizte Doppeltür. Sie verließen die von Buchrücken mit Goldschrift bedeckten Wände und betraten ein großes, helles Wohnzimmer mit Fenstertüren, die auf einen verschneiten, parkähnlichen Garten blickten. Eigentlich hätten Fenster und Winterlandschaft ihren Blick auf sich ziehen müssen, aber Ruby sah ihn sofort: einen hohen, französischen Rokokospiegel, mit einer runden Tischplatte, die darunter an der Wand befestigt war, die Art Möbel, die Tutt und Käse-Erik liebten, vergoldete Ornamente und zwei nach innen geschwungene Tischbeine. Auf der Tischplatte stand ein kleines Bild eines Mannes. Eines älteren Mannes, der Håvard ungeheuer ähnlich sah. Vor dem Bild standen ein kleiner, dichter Strauß aus frischen weißen Rosen und zwei brennende Talgkerzen.
Der Mann auf dem Bild trug eine deutsche Offiziersuniform.
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