Das Erbstueck
sie gerade Butter ins Mehl zerkrümelte, für eine Pastete, hob die Hände an ihr Gesicht und schlug sie vor den Mund. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Es war deutlich, dass sie sich Mogens’ Mitteilung einige lange Sekunden durch den Kopf gehen ließ. Dass er ausziehen wollte, dass sie ihn bedrängte. Als ihr die Bedeutung dieses Satzes dann aufgegangen war, streckte sie die Arme wie starre Stöcke
aus, holte Atem wie eine Opernsängerin, bis ihr Busen sich mindestens zwanzig Zentimeter gehoben hatte, und schrie:
»Dich bedrängt? Hast du bedrängt gesagt? Aber du willst ja nicht mal Geld ausgeben, um dein Zimmer zu heizen. Willst du jeden Winterabend im Mantel dasitzen, um dein Geld auf die Bank bringen zu können? Komm ja nicht und erzähl mir, du hättest jeden Moment mit mir nicht freiwillig genossen! Ich habe dir Wärme gegeben, du kleine Krabbe von Mann, du kannst dir ja nicht mal eine richtige Frau zulegen, du mit deinen blau gesprenkelten Fingern und deiner kränklichen Haut, du meinst wohl, ich hätte mich mit dir begnügen müssen, wenn ich in deinem Alter wäre? HUND! VIEH! Mach, dass du wegkommst. Schaff deine verdammten Knochen hier weg – hier in diesem Haus will ich verdammt noch mal von jetzt an nur noch STEINGUT sehen !«
Sie hatte Recht. Er hatte darum gebeten. Er war selbst angekrochen gekommen, mit seinen eiskalten Zehen, und hatte mit Kohlen beheizte Wärme und bebende weiße Witwenschenkel angenommen, und Kaffee mit Marmorkuchen am Bett, morgens, ehe er in die Fabrik gegangen war. Sie war gutmütig, diese Anne-Gine. Das war nicht das Problem. Es waren seine Gedanken, wenn er ihr Bett verlassen hatte, dass das alles falsch und hässlich war, so wie mit Jacobine. Nur begriff er das immer erst hinterher.
Hinterher. Als er auch nicht mehr an einen Gott geglaubt hatte, der ihm Vergebung schenken könnte. Da war nur noch das Schuldgefühl übrig gewesen. Und eine unendliche Trauer um den Vater, bei dem Gedanken, wie es für ihn gewesen war, den Brief zu bekommen.
»Ich habe keine neue Adresse, aber das wird nicht mehr lange dauern. So lange möchte ich hier wohnen als der Mieter, der ich ja auch bin, Anne-Gine. Ich bezahle dafür. Für Kost und Logis. Bitte, lass mich in meinem Zimmer in Ruhe.«
»DANN SCHER DICH DORT HINEIN!«
Er stand vom Küchentisch auf und ging. Er hörte, wie sie voller
Wut losschluchzte. Sie tat ihm Leid. Sie war gutmütig. Es musste grausam sein, einfach ins Gesicht gesagt zu bekommen, man habe um Liebe gebettelt. Er bereute das schon. Er hätte einfach ausziehen können, in aller Stille. Er hätte sogar irgendeine Lüge über eine Ehe auftischen können, um sie unmerklich in eine Art akzeptable Mutterrolle gleiten zu lassen. Aber nein, von nun an würde er mit offenen Karten spielen. Obwohl der Schlüssel zu seiner frisch gewonnen Selbstsicherheit noch immer wie ein versteckter Trumpf in seinem Ärmel steckte. Dieser Trumpf war für den künstlerischen Leiter Adam Poulsen bestimmt. Mogens hatte durchaus nicht vor, den Dienstweg über die Obermalerin Julia Ebbesen zu beschreiten. Bei seinen weit greifenden Plänen musste er sich an einen Mann wenden, an den Leiter persönlich.
»Wie du mich ENTTÄUSCHST«, brüllte sie wie eine betrogene Mutter, und zugleich ging klirrend etwas zu Boden. Vermutlich die bereits eingefettete Pastetenform. Er würde an diesem Tag auswärts essen müssen, in dem Bewusstsein, dass er ein weiteres Mal einen Menschen enttäuscht hatte, der ihm wohlgesonnen war, der ihn jedoch zugleich in seinem Drang, für ihn den Alltag festzulegen, zu ersticken drohte.
»Unser Vater hat bis zum Abend gewartet, um das zu lesen. Er hat sich darauf gefreut, er wollte sich daran weiden, er erzählte allen, die es hören wollen, es sei ein Brief aus Malding gekommen, von meinem begabten Sohn«, hatte Frode erzählt, als er fünf Jahre nach Mogens’ Flucht aus Paullund selber nach Kopenhagen gekommen war. Frode wollte bei Mogens leben, während er eine Setzerlehre machte.
Denn er hatte niemals Schönschreiben gelernt, dieser Frode Nicolai. Die Tintenkleckse seiner Kindheit hatten ihre Spuren hinterlassen. Er wollte lieber aus Metall gegossene Buchstaben in Reihe und Glied anordnen, spiegelverkehrt. Das machte er sehr gut. Am Ende konnte er mit den Fingerspitzen so gut buchstabieren, dass er das sogar schaffte, wenn er betrunken war.
Sie hatten im Café Osborne gesessen, weil Mogens gern die Rolle des urbanen großen Bruders spielen wollte, und sie
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