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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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Hund standen umgeben vom Mahagonirahmen da und betrachteten Mogens, der die Treppe zur Blaumalerstube hochstieg. Gott sei Dank hatte niemand von seinem Vorhaben gewusst, und deshalb blieb auch die Trauer nur bei ihm. Es war ein privates Fiasko, und in der Tür in der Bissensgade wartete auch kein wohlmeinender Drache, um noch seinen kleinsten Kummer zu erforschen und ihn dann durch Leidenschaft wieder gutzumachen.

    Er erfüllte den Akkord für Zuckerschalen, geriffelt. Er legte sie sorgfältig mit der Rückseite nach oben auf das Holzbrett, das Sophus dann abholen würde. Er schwieg zu Carl-Peters belanglosem Wortschwall. Er zog seinen Kittel aus und ging nach Hause auf sein Zimmer, legte sich aufs Bett, wollte weinen, hatte aber vergessen, wie das ging. Seine Kehle schnürte sich zusammen, und er stieß einige heisere Kehllaute aus wie ein Vogel, mehr passierte nicht. Er blieb einfach liegen und hustete, bis er sich
fast übergeben musste. Dabei kamen ihm grauenhafte Erinnerungen an die Stickhustenkrämpfe seiner Kindheit, an einen blutstarren Hahnenkamm, der ihm quer im Hals steckte, an das Ringen um Luft, die kaum durchdrang.
    Wie habe ich eigentlich in all diesen Jahren gelebt? Warum musste ich um jeden Preis nach Norwegen fahren? Ich hätte nach Frankreich reisen und frivol und barfuß über den Strand spazieren, in irgendeinem Straßencafé mit einem Mädchen flirten sollen, bis lange nach Mitternacht aufbleiben, Dinge essen, von denen ich Sodbrennen bekommen hätte, mich morgens nicht waschen, einfach ausschweifend sein können.
    Nachdem er schweißnass drei Stunden lang im Bett gelegen und am Ende einen längeren inneren Dialog mit Adam Poulsen geführt hatte, erhob er sich und nahm die Teller aus der Tasche. Er stellte den mit dem Haugfossen ins Regal und zertrat die beiden anderen auf dem Boden. Er fegte die Scherben zusammen und ging in Frodes Stammkneipe. Er trank Bier, weil er nicht reden wollte. So wurde man also zum Alkoholiker. So leicht und einfach war das: ein brennendes Bedürfnis danach, seine Sorgen zu ertränken, und Alkohol in greifbarer Nähe. Damit war es geschehen. Er ließ sich einen Schnaps geben. Frode bezahlte.
    »Aber Mogens, was ist passiert?«
    »Ich hab’s nur satt. Hab alles zum Kotzen satt.«
    Frode betrachtete ihn voller Verblüffung. »Aber du bist doch immer ... du weißt doch immer, was du willst, Mogens. Ich mache mir Sorgen, wenn du so redest. Du bist doch mein großer, solider Bruder.«
    »Heute nicht. Prost, Frode. Wollen wir eine Tour durch die Gemeinde machen?«

    Frode wollte ins Røde-Kro-Theater und sich die Sommerrevue ansehen. Billiges Essen und Trinken und dazu Unterhaltung. Die Revue würde nur noch wenige Tage laufen, danach würde das Theater bis zum Herbst geschlossen bleiben.

    Sie machten sich auf den Weg in Richtung Amager und Sundbyø, mit häufigen Pausen unterwegs, um ihren Durst zu löschen. Mogens spürte sich selber nicht mehr, nicht die Beine, und seinen Kopf schon gar nicht. Alle Gedanken, die der enthielt, waren ihm fremd, unter anderem nicht wenige, die mit dem Hund zu tun hatten. Ob der wohl mit Arsen vergiftet werden konnte? Mit schmutzigem Kobalt gefüttert? Als er sich im Rode Kro auf einen Stuhl fallen ließ, war er bereits restlos erschöpft. Er legte beide Arme auf eine rot karierte Tischdecke und war fast sofort eingeschlafen.

    Als er die Augen wieder öffnete, war um ihn herum alles dunkel, und auf der Bühne stand eine Göttin. Es war seine eigene Mutter, es war Christina Sol. Er war also tot und im Himmel. Sie sang ein Lied, das er nicht verstand. Ihre weizenblonden Haare reichten ihr bis zur Taille. Auf dem Kopf trug sie einen Silberkranz. Ein blaues Brokatkleid, das an den Schultern mit Goldketten gehalten wurde, bedeckte ihren Körper. Die Göttin rundete ihr Lied ab, indem sie einem älteren Herrn einen Blumenstrauß überreichte, und der verbeugte sich, dankte für diese überraschende Huldigung und behauptete, seine dreißig Jahre beim Theater seien wie ein Hauch verflogen, aber er könne wohl kaum auf dreißig weitere hoffen. Das werde seine Gesundheit wohl nicht gestatten. Oder seine Blase.
    Die Leute wollten sich ausschütten vor Lachen. Zu seinem Schrecken bemerkte Mogens, dass sie von Menschen umgeben waren. Zigaretten glühten in der Dunkelheit. Gläser klirrten. Es wurde applaudiert und gepfiffen. Die Göttin riss sich die Haare vom Kopf und legte tanzende blonde Locken frei, aber sie sah noch immer wie seine Mutter aus.

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