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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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Zeit noch großen Sachverstand, um zu begreifen, dass ihre Gegner sie zwar nicht hatten töten, aber doch lebendig begraben können. Der Felsvorsprung war so gründlich vom Rest des Berges abgetrennt worden, dass an ein Entkommen nicht zu denken war, und für jeden Felsbrocken, den sie entfernten, fielen zwei weitere nach, und ein vollkommener Einsturz der restlichen Kammer schien immer wahrscheinlicher.
    Aber nicht nur vor, auch hinter der Höhle hatte die Detonation ihre Spuren hinterlassen, und so entdeckte Goethe bald, dass ein schmaler Spalt, den Humboldt schon vormals in der Rückwand der Höhle ausgemacht hatte, durch das Beben breiter geworden war, und ein kühler, kalkreicher Luftzug zog von dort in ihr dumpfes Verlies. Niemand konnte sagen, wohin dieser Spalt führ te, und dennoch herrschte stilles Einvernehmen darüber, den Musentempel aufzugeben, und stattdessen tiefer im Berg nach einem Ausweg zu suchen.
    Den Großteil ihrer Ausrüstung hatte das Geröll zertrümmert und begraben, aber sie fanden noch eine Wurst und etwas verstaubtes Wildbret, eine Zunderbüchse, einen zerbeulten Topf, die Decken von Humboldt und Kleist, eine Flasche Branntwein, die den Steinschlag glücklich überstanden hatte, eine französische Muskete und schließlich die Waffen, die sie am Körper getragen hatten. Wie manches Mal im Hagelschlag die Sonne scheint, so hatten die Kameraden nun in ihrem Unglück das große Glück, unter einigen Steinen auch den Beutel mit den Pechfackeln hervorziehen zu können, die unabdingbar waren für ihren Erkundungsgang. Schiller entzündete sogleich die erste von einem Dutzend und führte den Weg voran in die Felsspalte.
    Die ersten Schritte waren mehr als mühsam, denn der Spalt war schmal, der Untergrund selten eben, und der schroffe Fels zerrte an ihren Kleidern. Goethe blieb zwischen zwei Felswänden so unglücklich stecken, dass er nur befreit werden konnte, indem Arnim ihn aus der Umklammerung des Berges zog, derweil Kleist von hinten schob. Abwärts und abwärts noch führte ihr schmaler Pfad, immer tiefer ins Massiv des Kyffhäusers, doch endlich weitete sich der Gang, und wie es sich die Gefährten erhofft hatten, tat sich dahinter ein Höhlenraum auf. Unter ihren Stiefeln brach der Boden wie trockenes Ge äst, denn er war mit einer Fülle von grauen Scherben bedeckt, und mit einem Blick nach oben wurde deren Herkunft erkennbar: Aus allen Ritzen und Spalten in der Decke quollen Lappen aus Gips, manche winzig, andere so groß wie ein ausgebreitetes Schnupftuch. Der Raum wirkte wie eine Lederei, in der man zahllose frisch gegerbte Leder zum Trocknen aufgehängt hatte. Goethe legte Hand an einen dieser steinernen Lappen, die sich ähnlich Tropfsteinen über die Jahrhunderte gebildet hatten, und hatte sogleich das ganze spröde Gebilde in der Hand. Er wünschte stumm, Humboldt wäre bei ihm, um dieses Naturphänomen zu diskutieren. Die anderen drängten weiter.
    Der Gang führte sie durch zwei weitere, kleinere Kavernen, bis sie hinter einer Kurve in einem Raum standen, der zwar recht niedrig war – und über und über mit Gips behangen –, aber so tief in den Berg hineinging, dass Schillers Fackel ihn nicht auszuleuchten vermochte. Am linken Rand der Höhle war ein Bassin mit Wasser, die Oberfläche glatt wie ein Spiegel, und große Felsbrocken und Schieferplatten durchsetzten den Boden. Und auf einem dieser Schieferbrocken saß – Karl, eine Kerze neben sich in den Stein gekeilt, den Ranzen zu seinen Füßen, kümmerlich in sich zusammengesunken wie ein Zwerg aus alten Märchen. Sein Anblick war es, nicht der der Höhle, der den Atem aller vier stocken ließ.
    Schiller fand als Erster wieder zu Worten: »So sehen wir uns wieder.« Und er setzte hinzu: »Im Reich der Schatten.« Und tatsächlich betrachtete Karl die Eindringlinge, als kämen sie geradewegs aus dem Hades.
    Kleist ließ die Muskete, die er getragen hatte, zu Bo den fallen. »Dass dich der Erde finstrer Schoß verschlänge«, fauchte er Karl an. »Du Feigling! Du – Mensch – entsetzlicher, als mir der Atem reicht, es auszusprechen!«
    Mit einem Satz war Kleist bei Karl, und hatte ihm ei nen so starken Backenstreich verpasst, dass Letzterer vom Fels zu Boden fiel. Kleist zerrte ihn am Kragen wieder auf die Beine, stieß ihn mit dem Rücken gegen den Fels, verpasste ihm einen Hieb ins Gesicht und einen weiteren durch Karls schützende Arme hindurch – aber nun waren Arnim und Goethe hinter Kleist, und indem jeder einen

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