Das Erlkönig-Manöver
andere Partei möge ein Schlupfloch entdeckt haben, wurde nun zunichte gemacht. Die beiden Fackeln wurden wieder gelöscht, um Licht aufzusparen, und Goethe verfügte, dass man den Braten essen dürfe. Je zwei Mann warfen sich eine Decke über, und im Licht der Kerze ver speisten sie, was von dem Wild übrig war, und spülten es mit Wasser aus dem verbeulten Topf hinunter.
Das Schauspiel dauerte sehr lange. Wäre nicht das Feuer gewesen, das eine Fackel nach der anderen langsam und unaufhaltsam zerfraß, hätte man nicht sagen können, ob Tage verstrichen oder Stunden oder ob die Zeit stillstün de; ob Tag und Nacht nur dort wechselten, wo es auch Tag und Nacht gab. Der einzige Takt war der unaufhörliche, immer gleich klingende Husten Schillers. Viel wurde getrunken, um den Hunger zu betäuben, und bald murmelte das Wasser hörbar in den Gedärmen des Quintetts. Schließlich gab Goethe auch die Wurst zum Verzehr frei. Mit seinem Säbel zerteilte Arnim sie in fünf gleiche Stü cke und klaubte danach gar den Speck von der Klinge, um keinen noch so kleinen Bissen verkommen zu lassen. Nach dem ersten Biss in seine Ration bot Karl demjenigen, der ihm sein Stück abgab, für den Fall, dass sie freikämen und er erst wieder König wäre, ein Fürstentum in Frankreich an, dazu einen Titel, und führte als Beispiel das Poitou an, aber Arnim herrschte ihn an, er möge sich sein Poitou in einen noch dunkleren Ort stecken, und Kleist bemerkte kauend, er wäre lieber Graf von der stinkenden Pfütze als von irgendetwas, das ihm von Karls Händen überreicht werde, und überhaupt wäre die Vorstellung unglaublich, dass er der Enkel einer Maria Theresia und eines Franz I. sei. Schiller und Goethe schwiegen hierzu.
Arnim unternahm eine zweite Expedition, nach einem Ausgang zu suchen, derweil die anderen die Zeit zum Schlaf auf dem kalten Schiefer nutzten. Hin und wieder hörte man Geräusche, die von ihm kommen konnten oder auch nicht – fallendes Wasser, knisternden Gips, durch die Höhlenwände vervielfacht –, und als er zurückkehrte, weil seine Fackel auf den Stumpf niedergebrannt war, sah man an seinen Augen, dass er geweint hatte. Er warf Schiller vor, bei Rheinstein nicht den verfluchten Taler vergraben zu haben, wie es ihm der Schiffer aufgetragen hatte. Schiller enthielt sich der Antwort, und weil er nicht länger liegen wollte, setzte er sich auf einen Schieferblock, der wiederum vor einem größeren lag wie ein Schemel an einem Tische, und bettete den Kopf auf diesen.
Schließlich waren alle Kerzen und Fackeln aufge braucht bis auf eine, und als sie diese entzündeten, blick te Goethe auf seine Taschenuhr. Es war um die zehnte Stunde, aber ob tags oder nachts, noch im Märzen oder schon im April, wusste man längst nicht mehr zu sagen. Sicher war nur, dass nach der Frist weniger Stunden die se letzte Fackel Kohle war und die Dunkelheit um sie her um vollkommen.
Kleist durchbrach die Stille einiger Stunden, indem er sprach: »Wir sterben.«
Schiller entgegnete nach einem ausgedehnten Seufzer: »Es ist leider bekannt, dass Dichter am frühesten verblühen. Schließt eure Rechnung mit dem Himmel ab.«
»Mal sehen, wer zuerst den bitteren Tropfen des To desengels kosten muss«, sagte Arnim, blickte dabei aber unverhohlen auf Goethe.
»Ich«, antwortete Kleist und nahm seine zwei Pistolen hervor. »Sobald dies Licht erlischt, werde ich auch das meinige ausblasen. Denn ich werde nicht in grabesdunkler Nacht in diesem Totenkeller ausharren, bis der Wahnsinn mich umfängt.«
»Du willst dich doch nicht selbst morden?«
»Ich habe noch ein zwotes Terzerol für den, der mich hinüberbegleiten möchte. Wie wäre es, Euer Hochwohl geboren? Das Leben ist viel wert, wenn man’s verach tet!« Kleist bot Karl die Waffe an, aber der schreckte davor zurück.
»Tu’s nicht, Heinrich, auf Knien bitt ich dich, ’s ist Sünde.«
Aber Kleist war taub für Arnims Bitte, und mit großer Ruhe prüfte er noch einmal Abzug und Lauf, beinahe, als gelte es lediglich, damit auf Fasane Jagd zu machen. Da die Pulverfüllung in den Pistolen noch aus der Hitze des Gefechts stammte, feuerte Kleist beide ins Dunkel der Höhle ab, um danach für den letzten Schuss gewissenhaft nachzuladen.
Schiller nahm derweil Goethe zur Seite. »Auf Wiedersehen in einer anderen Welt«, sagte er leise und reichte ihm dazu die Hand. »Kurz ist der Abschied für die lange Freundschaft.«
»Vergeben Sie mir meine Fehler?«
»Alle, Freund meiner Seele.
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