Das Erlkönig-Manöver
am Ofen.
Als er die Ledermappe aufschlug und das schmucklose Titelblatt las – D ER ZERBROCHNE K RUG –, kam Schiller wieder herein. Es ging ihm besser, aber er hustete und fluchte über die Kälte.
»Puh! Es ist grimmkalt«, sagte er und rieb sich emsig die Arme. »Trutz dem Teufel, seit Oßmannstedt will mir nicht mehr richtig warm werden. – Aber das war doch eine heitre Abschiedsstunde, nicht wahr?«
»In der Tat. Dafür sollte sich Ihr Wassertreten im Rhein gelohnt haben, mein alter Freund. Ich hab mein Tag so kein Gaudium gehabt.«
Schiller zeigte auf den Becher Milch in Goethes Hand. »Noch einen Schlaftrunk?«
»Gewissermaßen.«
»Dann gehen Sie noch nicht zu Bett?«
»Nein. Meine Ruhe ist hin. Ich schaue noch etwas in den Krug .«
»Aber nicht zu tief!«, sagte Schiller und zwinkerte ihm zu. Dann nahm er die Treppe, an der Arnim beinahe gescheitert wäre, und verschwand.
Kaum hatten Bettine und Arnim die Tür hinter sich geschlossen, da küssten und herzten sie sich, vom Wein und der Lust berauscht, und die Kälte ihrer Kammer tat dem keinen Abbruch. »Du bist mein schwarzer Stein«, sagte Arnim zwischen zwei Küssen, kaum bei Atem. Sie nahm seinen Kopf und drückte ihn in ihre Haare und an ihren Hals. Schneller und immer schneller schlug der Puls unter ihrer Haut. Dann wollte sie ihn aus seinem Gehrock befreien, aber die Ärmel blieben auf halber Höhe an den Armen hängen. »Ich liebe dich«, sagte Arnim, aber Betti ne verschloss ihm die Lippen mit einem Kuss. Ihr heißer Atem roch, ihre Zunge schmeckte nach Wein. Dann löste sie sich von ihm und begann, die Bänder ihres Kleides zu lösen. Arnim sah ihr tatenlos zu, den Rock noch immer halb aus-, halb angezogen in den Armbeugen. Offensichtlich wollte er nicht glauben, was geschah, oder er hielt es in der Dunkelheit der Kammer für eine Sinnestäuschung. Er kniff die Augen zusammen, um sich zu vergewissern.
»Was ist?«, fragte Bettine.
Arnim nickte nur und versuchte seinerseits, sich zu entkleiden. Da seine Arme aber noch immer in den Ärmeln gefangen waren, konnte er sich kaum bewegen. Beim Kampf mit dem Rock geriet er ins Schwanken, machte einen Schritt nach hinten, stieß gegen den Bettkasten, verlor die Balance und plumpste rücklings aufs Lager in die weichen Daunen. Dort blieb er liegen. Er sagte: »Das ist ein Zustand, der dem Verlieben nicht günstig sein kann«, aber dermaßen undeutlich, dass er es selbst nicht verstand. Dann stieß er auf.
Bettine hielt inne. »Was ist?«, fragte sie abermals. »Willst du schlafen?«
Mit Mühe richtete Arnim den Oberkörper wieder auf, den Kopf schüttelnd. »Mir ist zu licht zum Schlafen.« Dann fielen ihm die Augen zu, eines nach dem anderen, und seinen Worten zum Trotz ließ er sich erneut ins Bett sinken. Dieses Mal blieb er liegen. Bald ging sein Atem, der eben noch rannte, leise und regelmäßig.
Halb entkleidet beugte sich Bettine über den Schlafenden, der auch unter diesen entwürdigenden Bedingungen noch wie ein griechischer Götterjüngling aussah. Mit der flachen Hand klatschte sie ihm auf beide Wangen, aber zur Antwort bekam sie nur einen schnarchenden Kommentar. Sie setzte sich neben ihm auf die Bettkante nieder.
Eine Weile blieb sie so sitzen. Dann ging sie zur Kommode, um sich etwas kaltes Wasser aus der Schüssel übers Gesicht und die Hände laufen zu lassen. Sie unternahm einen missgelaunten Versuch, Arnim aus der Umklammerung seines Gehrocks zu befreien, aber er lag bleischwer darauf. Also zog sie ihm lediglich die Stiefel von den Füßen, hob die Beine aufs Bett und breitete die Decke über ihm aus. Dann band sie ihr Kleid wieder zu und verließ die Kammer. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Flur leer war, ging sie hinab in die Wirtsstube.
Im Schein zweier Kerzen saß Goethe im Lehnsessel. Er ließ das Lustspiel, von dem er nur wenige Seiten hatte lesen können, langsam sinken, als er Bettine sah. Sie blieb auf halber Strecke stehen, und dann, ohne eine Wort zu sagen, eilte sie zu ihm, setzte sich auf sein Knie, schlang die zarten Arme um ihn und blieb, mit dem Kopf an sein Herz gelehnt, sitzen. Goethe ließ es geschehen und zog ihre aufgelösten Haare durch die Finger. Still, ganz still war es, und darüber schlief Bettine schließlich an seiner Brust ein. Goethe erhob sich mit ihr in den Armen und trug sie wie ein schlafendes Kind zurück in ihre Kammer, um sie zu betten und zuzudecken, wie sie es zuvor bei Arnim getan hatte.
7
FRIEDLOS
In der ganzen
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