Das Erlkönig-Manöver
denn wiewohl ich die Revolution anfangs begrüßte, war ich schockiert, dass die Sansculotten gegen ihren eignen König prozessierten. Ich hatte eine Verteidigungsschrift für Ludwig schon verfasst und hoffte, die Franzosen würden mir, als französischem Ehrenbürger, in dieser Sache Gehör schenken. Und dann erreichte mich die Hiobspost seiner Hinrichtung. Ich bin damals nicht schnell genug gewesen, und ich bin dankbar, dass ich mit deiner Rettung nachholen kann, was ich an deinem Vater versäumt habe.«
Heraus aus den Schatten und regen Wipfeln des dicht belaubten Haines trat nun eine Gestalt auf die Wiese un ter dem Rabenfelsen. Es war Goethe, der aber nicht zu den beiden sah, sondern vielmehr aufmerksam auf die Wiese, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er wirkte wie einer der zahlreichen Störche, die derzeit aus dem Süden zurückkehrten, auf der Suche nach Fröschen im hohen Gras.
»Wollen wir unser Gespräch morgen fortsetzen?«, fragte Karl.
»Gerne. Und ich werde dem ehrwürdigen Geheimrat bei seiner Suche helfen. Vielleicht sucht er nach Kieseln für seine Sammlung daheim.«
Die beiden kletterten vom Fels hinab, und während Karl zurück ins Lager ging, trat Schiller zu Goethe – gerade als sich dieser niederbeugte, um einen Krokus zu pflücken. Offensichtlich sammelte er Blumen für ein Sträußchen.
»Was gibt das?«, fragte Schiller. »Für wen ist das Bouquet?«
»Was fragen Sie? Für Humboldt.«
Schiller runzelte die Stirn. »Damit er es in Alkohol ertränkt? Oder braut er uns eine indianische Arznei daraus?«
»Das war ein Scherz, mein Freund. Natürlich sind die Blumen nicht für Humboldt, sondern für die einzige Da me unsrer Société.«
»Für Bettine? Entzückend. Selbst in der Wildnis sind Sie noch ein Gentilhomme.«
»Dankbarer noch als für Ihren ungefragten Kommentar wäre ich allerdings für tatkräftige Mitwirkung. Seien Sie so hilfreich und gut, mir bei der Suche nach einigen schönen Blüten zur Hand zu gehen. Blumen im März finden sich mühsamer als Speck in eines Juden Küche.«
Seite an Seite durchstreiften sie also die Wiese und pflückten, was sie an Blumen finden konnten.
»Wie geht es voran mit der politischen Erziehung des Fürsten?«, fragte Goethe.
»Vielversprechend. Er ist mit vielen unsrer Denkweisen noch unvertraut und mitunter decouragiert vor seiner eignen Zukunft als Herrscher – Karl erbt das größte Reich der Christenheit –, aber er ist so gelehrig wie kein Zweiter.«
»Je nun: Herrschen lernt sich leicht, regieren schwer.«
»Wenn er kein Prinz wäre, so verdiente er einer zu sein, und sollte ich nur halb so viel Einfluss auf ihn haben wie Sie weiland auf Carl August, dann geht Europa in diesem Jüngling ein neuer, schönrer Morgen auf. – Ist diese un scheinbare Narzisse hier gut genug für Ihren Strauß?«
»Nur her damit, doch trennen Sie vorher die Wurzel ab«, erwiderte Goethe und nahm dann das Blümchen entgegen. »Wenn man bedenkt, dass Louis-Charles in der Temple-Gefangenschaft von seinem Vater unterrichtet wurde, dann treten Sie dieser Tage mit Ihren Lektionen in die Fußstapfen Ludwig XVI. Erstaunlich, nicht wahr?«
»Ja. Mein Leben hat die Farbe eines Romans. Aber ich will mich nicht darüber beklagen.«
Am Ende ihrer Ernte hatten sie drei Krokusse, einen Blaustern, vier Narzissen und einige Windröschen beisammen. Damit begaben sie sich auf dem schmalen Wildpfad zurück zum Lager. Auf schwarzen Steinen überquerten sie einen kleinen Bach, der den geschmolzenen Schnee der Höhen lustig murmelnd talwärts trug. Die Wipfel waren erfüllt vom Sang der Vögel.
Als Goethe noch eine Schlüsselblume vom Wegesrand seinem Strauß hinzufügte, sagte Schiller: »Und wie ich in der Politik den Fortschritt suche, suchen Sie ihn anscheinend in Herzensdingen.«
»Wovon reden Sie?«
»Ich bin, obschon aus Schwaben, keinesfalls begriffs stutzig«, sagte Schiller lächelnd. »Jeder, der zwei gesun de Augen im Schädel hat, kann sehen, dass Bettine Ihnen so gut als verfallen ist – außer natürlich Achim, der arme Tropf, denn der will es nicht sehen –, und Sie haben bislang nichts getan, Bettines ständiges Schlenzen und Scherwenzen zu entkräften.«
»Ich bestärke sie darin aber auch nicht.«
»Unbewusst tun Sie es.«
»Das wüsste ich.«
»Sie wissen es eben nicht. Daher ja unbewusst , mein teurer Freund.«
»Bitte nennen Sie ein Beispiel, Sie Seelenkenner.«
»Oh, Sie halten es in Ihren Händen: der Frühlingsgruß. C’est
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