Das Erlkönig-Manöver
umwehten sie die Lüfte. Humboldt schloss seine Augen.
»Die Eichen sind so still, die auf den Bergen verstreut sind«, murmelte Kleist.
»Unter allen Zweigen ist Ruh,
In allen Wipfeln hörest du
Keinen Laut.
Die Vögelein schlafen im Walde,
Warte nur, balde
Schläfest du auch. – Das ist von Goethe.«
»Kein Goethe, nicht, ich bitt dich drum«, erwiderte Humboldt, ohne die Augen aufzuschlagen. »Nicht hier.«
»Was? Liebst du ihn nicht?«
»Ich liebe ihn, wie man einen kauzigen Großvater liebt, der einst Großes vollbracht hat. Aber dass er die Revolution in Frankreich dreifach verwünscht hat – die Ausrottung des Feudalsystems und aller aristokratischen Vorurteile, unter denen die ärmeren und edleren Menschenklassen so lange geschmachtet haben –, das trage ich ihm nach. Von seinen unhaltbar-neptunistischen Thesen einmal ganz abgesehen.«
»Traun! warum hört man dich diese Tadel nie äußern?«
»Weil in dieser Gruppe schon genug Meinungen kundgetan werden.«
»Und ich dachte, ich wäre der Einzige, der nicht im mer auf Goethes Kurs segelt.«
»Das bist du nicht. Das warst du nie. – Nun aber nichts mehr von Goethe, Freund, vor allem aber auch nichts vom Korsen.«
Kleist legte den Kopf in den Nacken, sah an den Tannen vorbei in den Himmel und sagte: »Dann erzähl mir von Amerika.«
Und Humboldt erzählte von seiner Reise von den Kapverden nach Südamerika, über den Orinoko und den Amazonas bis in die Anden, nach Kuba, Mexiko und in die Vereinigten Staaten, von den Gefahren, den Niederlagen und den Erfolgen, von den Mineralien, Pflanzen und Tieren, die er studiert, und den Sternen, die er beobachtet hatte, von den Menschen, denen er begegnet war, von seinen Instrumenten und von Bonpland, seinem treu en französischen Gefährten. Nach einer Stunde aber brachte er die Sprache auf Kleists Reisen durch Europa und schließlich auf dessen Werke, und mit Frohsinn und Inbrunst berichtete Kleist von seiner Arbeit. Während des Gesprächs zog Kleist seinen Überrock wieder aus.
»Was tust du?«, fragte Humboldt darauf.
»Es ist sehr heiß.«
»Mitnichten. Wir haben März, und Boreas bläst kühl durch den Wald. Du wirst dich erkälten.«
»Ich glaub, es ist innerlich.«
»Fühlst du dich nicht wohl?«
»Doch, doch. Ich fühle mich sehr wohl. Nur meine Zunge ist trocken.«
Humboldt füllte seine Feldflasche unter der Kaskade und gab sie Kleist. Der nahm sie dankend entgegen.
»Wenn du deine nächste Reise um die Welt antrittst«, sagte er, nachdem er getrunken hatte, »will ich dein Bonpland sein.«
Humboldt lächelte und reichte Kleist die Hand, um ihm hochzuhelfen. Eine Stunde später waren sie zurück beim Lager.
Kleist konnte nicht schlafen in selbiger Nacht. Rastlos spielte er mit dem Eisenring um sein Handgelenk. In seinem Bauch rumorte es. Humboldt hatte bereits die Vermutung geäußert, er hätte sich vielleicht mit den Speisen der Natur auch einen Bandwurm einverleibt. Nun schlief Humboldt unweit von ihm, und über dem Felsvorsprung knarrten die Fichten, wie es Arnim erzählt hatte. Der Mond stand voll und ungetrübt am Himmel und warf gestochen scharfe Schatten auf den Waldboden, und alles bis auf die letzte Glut in der Feuerstelle war blau von Farbe.
Er hörte ein Geräusch vom Lager und blickte auf. Bet tine schlug soeben die Leinwand ihres Zeltes zur Seite und ging einige Schritte, die Decke um ihre Schultern gelegt. Kleist wandte seinen Blick ab, hörte aber, wie sie sich im Schatten einiger Sträucher erleichterte. Aber sie kehrte nicht ins Zelt zurück. Kleist suchte das Dunkel nach ihr ab, bis er sie schließlich entdeckte. Dort, wo die Senke endete und der Hang begann, von dem aus sich der Blick über das Tal bot, war ein toter Baum, halb umgesunken, halb stehend, dessen Umstürzen nur von einem anliegenden Fels verhindert wurde. Ein großer Teil seiner Wurzeln ragte bereits aus der Erde. Neben diesem Baum stand Bettine, ein schwarzer Schattenriss vor dem Mond.
Ebenfall in seine Decke geschlungen, trat Kleist zu ihr. »Du kannst nicht schlafen, Atalante?«
»Es ist gewiss der Mond«, antwortete sie leise.
Kleist sah hoch zu dem Trabanten, dessen Furchen so deutlich wie in Kupfer gestochen waren.
»Was ist mir dir?«, fragte sie. »Du wirkst, als hätte dich etwas verstört.«
Kleist lächelte. »Bin ich denn ein so offnes Buch zu lesen?«
»Was hat dich verstört? Hast du schlecht geträumt?«
»Verstört? Ich bin vergnügt! Ich bin so fröhlich wie ein Eichhorn in
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