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Das erste Buch der Traeume

Das erste Buch der Traeume

Titel: Das erste Buch der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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Beobachtungsposten. Ich schielte an meinem Schnabel vorbei auf den Boden. Genau unter mir standen die vier Jungen, und jetzt sah ich auch, was Arthur gezeichnet hatte: einen großen, fünfzackigen Stern, einen Drudenfuß mit einem Kreis darum. An manchen Stellen brannte das Gras noch einen halben Meter hoch, überall sonst begannen die Flammen bereits zu erlöschen.
    »Wir sind in dieser Neumondnacht zusammengekommen, oh Herr der Schatten und der Finsternis, so dass du uns den Namen derjenigen nennen kannst, die unseren Kreis wieder vervollständigen wird, damit wir unseren Teil des Paktes einhalten können«, rief Arthur.
    Oh Herr der Schatten und der Finsternis – nun ja. Vorhin hatte das alles irgendwie bedrohlicher geklungen und weniger lächerlich. Aber ich sollte froh sein, dass er Englisch sprach und nicht Latein, so konnte ich ihn wenigstens verstehen. Ich war gespannt, ob sich der Herr der Schatten und der Finsternis nun auch zeigen würde.
    Vorerst loderten lediglich die Flammen höher, dann brach in der Mitte des Drudenfußes die Erde auf, und etwas schob sich mit dumpfem Grollen aus dem Boden heraus. Okay, jetzt wurde es wirklich unheimlich. Meine Zeder bebte. Vor lauter Angst, es könne ein zombieartiges Wesen sein, das aus der Erde kroch (der Herr der Schatten und der Finsternis sah bestimmt nicht niedlich aus), schloss ich reflexartig die Augen und schlang meine Arme um einen Ast. Dabei vergaß ich ganz, dass ich eine Eule war und gar keine Arme besaß. Ein dummer Fehler. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte ich nicht länger Klauen und Federn, sondern hockte ziemlich ungünstig in meiner menschlichen Gestalt im Geäst der Zeder, mitsamt Nachthemd, Pulli, Pünktchensocken und der Gewissheit, dass mein Gewicht viel zu schwer für die dünnen Zweige war. Krachend gaben sie unter mir nach, und obwohl ich nach allem griff, was mir während des Fallens entgegenschlug, stürzte ich wie ein Felsbrocken hinab, mitten in den Drudenfuß und genau auf das, was sich aus der Erde geschoben hatte. Das übrigens kein Zombie war, sondern lediglich ein polierter Steinquader von der Größe eines Küchentischs.
    Nach allen mir bekannten naturwissenschaftlichen Gesetzen hätte ich mir beim Aufschlagen auf den Stein sämtliche Knochen brechen müssen, aber in diesem Traum schienen die Gesetze glücklicherweise nicht zu greifen. Ein paar Zedernnadeln rieselten auf meinen Kopf nieder, ein Zapfen landete in meinem Schoß, doch mir war absolut nichts passiert.
    Ich konnte mich ohne irgendwelche Schmerzen aufrichten und in die vollkommen konsternierten Gesichter der vier Jungs ringsherum sehen, die mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrten.
    Ein bisschen peinlich war es allerdings schon, irgendwie unwürdig. Ich fühlte mich gar nicht mehr wie Catwoman, und das war keine schöne Traumwendung, wirklich nicht. Schnell schloss ich die Augen und hoffte, dass ich mich einfach noch einmal verwandeln und davonfliegen konnte. Leider gelang es mir nicht, mich auf eine Eule zu konzentrieren – kein Wunder, wenn man so angestarrt wurde. Frustriert klopfte ich mir die Baumnadeln vom Pulli und zog das Nachthemd über meine Knie.
    Die vier Jungs sahen immer noch erschrocken aus, Henry und Grayson vielleicht ein bisschen weniger als die anderen beiden.
    »Gerade war ich noch eine Schleiereule, ehrlich«, versicherte ich ihnen.
    Rasierspaß-Jasper streckte seine Hand aus und berührte kurz meinen Arm.
    »Das … das verstehe ich nicht«, sagte er. »Was hat das denn zu bedeuten? Ich dachte, er würde uns einen Namen zeigen und nicht gleich ein ganzes Mädchen auf den Altar werfen …«
    »Wer bist du?«, wollte Arthur wissen, der von nahem und in diesem Licht mehr denn je wie ein lebendig gewordener Engel wirkte. Ein unheimlicher Engel.
    Ein plötzlicher Windstoß ließ die Blätter der umstehenden Bäume rauschen und blies Arthur die blonden Locken aus dem Gesicht. »Nenne mir deinen Namen, oder … abeas in malam crucem !«
    Oder … was? Verschwinde in schlechtes Kreuz? Ach, es war eine Schande, dass ich nur so kurze Zeit Latein gehabt hatte. Dummerweise hatte ich geglaubt, es niemals brauchen zu können. Ich war kurz versucht, genauso salbungsvoll zu antworten (und dabei geschickt mit dem einzigen lateinischen Spruch zu glänzen, den ich kannte), so etwas wie: »Ich, oh Unwürdiger, bin die Cousine des Herrn der Schatten und der Finsternis, und in dubio pro reo «, aber leider wussten Grayson und Henry ja, wer ich wirklich

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