Das erste Buch der Traeume
nacheinander die Hand, und wir stellten uns mit unseren Namen vor und versicherten, dass wir uns ebenfalls freuten. Als Lottie an der Reihe war, war sie noch röter geworden und erklärte, sie hieße Tollie Hastlwuber und sei das Minderkädchen.
»So ähnlich jedenfalls«, murmelte Mum.
Mia und ich tauschten einen alarmierten Blick. Was war denn nur mit Lottie los? Wir trauten unseren Ohren kaum, als unser Minderkädchen jetzt auch noch Einblick in bisher verborgene Familiengeheimnisse gewährte.
»Ich war übrigens auch mal das schwarze Schaf der Familie«, erklärte sie eifrig. »Aber dann hat meine Cousine Franziska sich in ihre Putzfrau verliebt, deshalb war sie dann das schwarze Schaf. Bis mein Cousin Basti sie abgelöst hat, weil er sein Hotel in einen Swingerclub umge…«
»Lass uns die Einzelheiten doch auf später verschieben«, fiel Mum ihr hastig ins Wort und drückte energisch den Klingelknopf. »Es gibt schließlich eine Menge Möbel zu rücken … Oh, hallo, Ernest, Liebling! Entschuldige die Verspätung. Aber an mir lag es nicht.«
»Wir sind in den balschen Fus gestiegen«, sagte Lottie mit einem verklärten Lächeln, das allerdings nicht Ernest galt. Allmählich dämmerte mir, was hier los war.
»Ich glaube, wir haben hier einen möglichen Kandidaten für die Aktion Lottie verkuppeln «, flüsterte ich Mia zu, als wir ins Haus spazierten. »Das schwarze Glatzkopf-Schaf scheint irgendwie ihr Typ zu sein.«
»Ja, eindeutig«, flüsterte Mia zurück. »Ich werde ihm gleich mal auf den Zahn fühlen.«
Und das tat sie auch, indem sie mit ihrem allersüßesten Lächeln eine indiskrete Frage nach der anderen stellte, entweder an Charles direkt oder einen seiner Verwandten. Am Ende des Tages hatten wir sehr viel geschafft:
Zuerst hatten wir die Familienzusammenführung von Spot und Butter bewerkstelligt, nach Butters unrühmlichen Erstauftritt eine überraschend simple Angelegenheit: Am Anfang starrten sie sich eine Weile lang an – Spot hoheitsvoll von seinem Platz auf dem Sofa, Butter eher ängstlich schnüffelnd an Lotties Bein gedrückt –, dann beschlossen sie, einander für den Rest des Tages einfach zu ignorieren, wobei das Spot eindeutig besser gelang als Butter, die immer wieder mal misstrauische Blicke zum Sofa schickte und uns ansonsten auf Schritt und Tritt durch alle Stockwerke verfolgte. Und das waren wirklich viele Schritte, denn wir mussten gefühlte vierzig Tonnen Möbel und Kartons von rechts nach links, von oben nach unten und zuletzt auch kreuz und quer räumen.
Zwischendurch hatten wir über fünfzig Schattierungen von Weiß kennengelernt und die mit den schönsten Namen herausgesucht (»old lace« für Lottie, »snowwhite« für Mia und »seashell« für mich), wobei sich Florence als überraschend stilsichere Ratgeberin erwies und Grayson als farbenblind. (»Wollt ihr mich verarschen? Das ist doch alles gleich weiß!«)
Und wir hatten ein umfassendes Dossier über Ernests Bruder Charles zusammengestellt: Er war neununddreißig Jahre alt, kinderlos und seit zwei Jahren geschieden. Die Scheidung von »Eleanor, dem gierigen Drachen« hatte ihn ein Ferienhaus in Südfrankreich, einen Jaguar und jede Menge Nerven gekostet. Auch die Falte zwischen seinen Augenbrauen ging ausschließlich auf Eleanors Konto, behauptete jedenfalls Florence. Er spielte Tennis, spendete Geld für den World Wildlife Fund, mochte klassische Open-Air-Konzerte im Park sowie die Musik einer Band namens Lambchop. Apropos Lambchop: Als schwarzes Schaf der Familie bezeichnete man ihn enttäuschenderweise nicht etwa deshalb, weil er nachts Graffiti-Kunst an Tunnelwände sprayte oder Marihuana selber anbaute oder was schwarze Schafe sonst noch so tun, sondern weil er im Gegensatz zu seinen drei großen Brüdern nicht Jura studiert hatte und auch nicht in die Politik gegangen war. Stattdessen besaß er eine Zahnarztpraxis in Islington. (Und der Ausdruck »auf den Zahn fühlen« bekam gleich noch einmal eine andere Bedeutung.) Mia und ich waren ein bisschen enttäuscht. Ein Tierarzt wäre super gewesen, aber Zahnarzt – nein, das gab Abzüge bei den Sympathiepunkten. Zahnärzte riechen auch einfach nicht gut …
Aber nicht nur Charles musste sich einem neugierigen Verhör unterziehen, auch Lottie durfte sich eine Menge merkwürdiger Fragen gefallen lassen, denn offensichtlich hatte Florence ein Problem mit Lotties Nationalität, und es war ihr ein Anliegen zu überprüfen, ob sich Nazis unter ihren Vorfahren
Weitere Kostenlose Bücher