Das erste der sieben Siegel
Der arme Kerl … Und dann fingen die nächtlichen Anrufe an. Ich habe ein paar Mal die Nummer ändern lassen, dann hatte ich sogar eine Geheimnummer – es half nichts. Schließlich hab ich immer den Stecker rausgezogen. Als nächstes tauchten dann Leute bei mir im Büro auf und schrien mich an. Ich meine, mit diesen Menschen konnte man einfach nicht reden.«
»Wie sahen die aus?«, fragte Frank.
»Wie Studenten. Ganz normal. Das einzig Abnorme an ihnen war, dass sie mich anbrüllten – und mit Blut rumspritzten.«
Annie wurde bleich.
»Einmal kam eine Frau in die Bibliothek gerannt, zerrte einen kleinen Jungen hinter sich her und kreischte, sie hätte mich mit ihm ›erwischt‹! Direkt danach kriegten ein paar Leute an meiner Fakultät E-Mails, darunter auch mein Doktorvater.«
»Was für E-Mails?«, fragte Frank.
»Ach, so richtig kindisches Zeug. Hassbriefe. Ich meine, einer der Mitarbeiter bei uns ist schwul – das weiß jeder, also bekam er schwulenfeindliche Hetztiraden. Und mein Doktorvater ist Afroamerikaner, und was meint ihr, was sie ihm geschickt haben? Irgendwelchen Scheiß über christliche Identität!«
»Und Ihr Name stand drauf?«
»Nein, dazu sind sie zu geschickt. Sie hatten mit ›Weiße Rächer‹ oder ähnlich unterschrieben. Aber das war egal, weil sie es über meinen Computer abgeschickt hatten, und die Polizei konnte das zurückverfolgen.«
»Wie konnten sie es denn über Ihren Computer schicken?«, fragte Frank.
»Ganz einfach«, erwiderte Stern. »Sie sind in die Wohnung eingebrochen, als ich nicht da war, haben die E-Mails geschickt, und das war’s.«
»Wie furchtbar«, sagte Annie.
»Ich bin festgenommen worden«, fuhr Stern fort. »Ich sollte angeklagt werden! Wegen Diskriminierung! Könnt ihr euch das vorstellen?«
»Aber Sie sind aus der Sache rausgekommen«, sagte Frank.
Stern nickte und lachte dann. »Jawohl, die haben Mist gebaut. Ich hatte nämlich gerade mein Seminar gegeben, als die E-Mails verschickt wurden. Es stand in der Kopfzeile: Donnerstag, vierzehn Uhr fünfzehn. Ich konnte es gar nicht geschickt haben.«
»Und wie ging es weiter?«
»Gar nicht. Die Polizei hat die ›Tempel‹-Anwälte kontaktiert, und wisst ihr, was die gesagt haben? Die haben gesagt, ich wäre so verrückt, wahrscheinlich hätte ich selbst meinen eigenen Hund vergiftet. Und dann haben sie gesagt, vielleicht hat er ja die Zeitangabe im Computer geändert – was tatsächlich nicht schwer wäre. Hätte ich natürlich machen können, aber – warum soviel Mühe, wenn ich die Briefe doch einfach über ein anonymes Mailsystem hätte schicken können, bei dem es gar keine Kopfzeile gibt?«
»Und damit war der Spuk dann vorbei?«, fragte Frank.
Stern schüttelte den Kopf. »Nein. Es ging noch Monate so weiter. Sie haben für mich einen Nachsendeantrag bei der Post gestellt – sodass meine Post plötzlich verschwand, was besonders unangenehm war, weil plötzlich jemand anfing, meine Visacard und Mastercard zu belasten.«
»Womit denn?«, fragte Annie.
»Mit peinlichem Zeugs, Sachen, die einen in echte Schwierigkeiten bringen können – schon allein weil man auf den Mailinglisten steht. Gewaltpornographie. Chemikalien, mit denen man Speed herstellen kann, und so weiter. Ich hatte tausend Dollar für Anrufe bei 900er Nummern und ein Abonnement für den Rundbrief der Gesellschaft ›Mann-liebt-Boy‹ und den der ›Church of the Mountain.‹«
»Was ist denn das?«, fragte Annie.
»Ein Nazi-Verein. Aber versteht ihr, ich hatte eine ganze Reihe von Inkassofirmen auf dem Hals, ganz zu schweigen von der Drogen- und der Zollfahndung.«
Annie verdrehte die Augen.
»Dann haben sie eine Verleumdungsklage gegen mich angestrengt …«
»Warum?«, fragte Frank.
»Warum nicht? Sie konnten es sich doch leisten. Und mich hat es Kopf und Kragen gekostet, sie abzuschmettern.«
»Und dann?«
»Dann nichts mehr. Sie haben einfach aufgehört.«
»Aufgehört?«, wiederholte Annie.
»Ja. Einfach … aufgehört. Als hätten sie sich hinreichend verständlich gemacht und würden sich nun wieder wichtigeren Dingen zuwenden. Ich glaube, es war eine Warnung.«
»Mein Gott«, wisperte Frank.
»Deshalb bin ich ein bisschen paranoid«, fügte Stern hinzu. »Ich meine, da bringe ich Solange mal wieder im Rundbrief – und, peng, taucht ihr auf und erkundigt euch nach dem ›Tempel‹. Ihr seht, was ich mitgemacht habe.«
Frank nickte. »Ja«, sagte er, »allerdings.«
»Ich mach noch mal
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