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Das erste Jahr ihrer Ehe

Das erste Jahr ihrer Ehe

Titel: Das erste Jahr ihrer Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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vorher, den Rumpf eines Menschen erkennen. Sie konnte sogar die Beine erkennen. Aber sie brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, was sie sah – dass der Pilot enthauptet worden war.
    Wie betäubt begann sie zu fotografieren. Jagdish zeigte ihr da und da und da. Nach einem Dutzend Aufnahmen senkte sie den Apparat. Sie konnte keine Bilder mehr machen, sie würde sich gleich übergeben. Es war nicht klar, was dem Mann den Kopf abgerissen hatte. Sie hustete und beugte sich nach vorn. Jagdish war sofort bei ihr und hielt sie am Ellbogen. »Ist das Ihre erste Leiche?«, fragte er.
    »Nein. Es ist nur …«
    »Knipsen Sie«, sagte er. »Gleich bringen sie die Leichen weg. Kommen Sie mit.«
    Er zog Margaret mit sich zu dem Leichnam, der sechs Meter von der verunglückten Maschine entfernt auf dem Asphalt lag. Oben kreisten die Bussarde. Eine Gruppe Afrikaner in westlicher Kleidung stand um den Leichnam herum. Hinter ihnen dehnte sich eine trostlose Ebene staubigen Buschlands. In der Ferne konnte Margaret einen Holzbau mit einem roten Schild erkennen. Die Schrift auf dem Schild konnte sie nicht entziffern.
    Jagdish drängte sich zwischen den Schaulustigen durch und kniete neben dem Leichnam nieder. Er hörte einen Moment zu schreiben auf.
    »Hier«, sagte er, sich auf die Fersen zurücksetzend. »Fotografieren Sie.« Er scheuchte die Gaffer weg. Margaret machte die Aufnahmen, die er haben wollte. Sie beugte sich zu dem Leichnam hinunter. Es war eine Afrikanerin, sie trug das Abzeichen der Flying Doctors. Es gab keinen Zweifel, dass sie tot war. Der mit dem Leintuch verhüllte Leichnam musste der Patient gewesen sein.
    Warum war immer noch keine Hilfe da? Margaret konnte nicht verstehen, dass man sie und Jagdish so ungehindert ihre makabre Arbeit tun ließ. In den Staaten hätten Polizei und Flugsicherheitsbehörde eine solche Unfallstelle unverzüglich gesperrt. Journalisten hätten sich mit Auskünften eines offiziellen Sprechers begnügen müssen.
    Ihre Hände begannen zu zittern, sie konnte den Fotoapparat nicht mehr ruhig halten.
    Jagdish kam zu ihr, ohne Jackett und mit halb heraushängendem Hemd.
    »Ist Ihnen schlecht?«, fragte er.
    »Nein. Mir zittern nur die Hände.«
    Sie fragte sich, ob Jagdish Mr. Obok davon berichten würde.
    »Sie werden sich schon daran gewöhnen«, sagt er und zog aus seiner Jackentasche ein Röhrchen mit kleinen weißen Tabletten. »Nehmen Sie eine«, riet er. »Dann hört das Zittern auf.«
    Margaret hatte keine Ahnung, was für eine Tablette das war, aber sie zögerte nicht. Sie schluckte sie ohne Flüssigkeit.
    »Lassen Sie sich eine Minute Zeit«, sagte er. »Dann gehen Sie wieder zur Maschine und fotografieren von der anderen Seite.« Er hob den Kopf. In der Ferne war schwach Sirenengeheul zu hören. »Nein, gehen Sie gleich«, drängte er.
    Am Abend kam ein Extrablatt der Zeitung mit Margarets Fotos auf der ersten Seite heraus. Es waren grausige Bilder, und sie war froh, dass ein Bildnachweis fehlte.
    Trotzdem war sie auch stolz auf ihre Arbeit. Die Bilder waren gestochen scharf, die Story wurde schon durch die Komposition offenbar. Niemand lobte sie, nicht einmal Mr. Obok, der die Sonderausgabe nur dank ihrer Bilder hatte bringen können. Die Meldung vom Absturz allein, ohne die Fotos, wäre die Blitzausgabe nicht wert gewesen. Die Tribune Extra erschien eine Stunde vor dem Evening Standard . Danach war allgemeines Schulterklopfen angesagt.
    Margaret hatte die relevanten Seiten des Extrablatts gefaltet auf den Boden ihrer Fototasche geschoben. Die Wirkung der Tablette, die tatsächlich gegen das Zittern ihrer Hände geholfen hatte, begann nachzulassen. Sie wischte die feuchten Innenflächen ihrer Hände am Rock ihres Kleides ab. Auf der Fahrt zum Nairobi Hospital, wo sie Patrick abholen wollte, musste sie an die drei Toten denken, die sie gesehen hatte. Den Piloten, den Patienten, die Ärztin. Die Story war natürlich ein Knüller gewesen, die Quintessenz zum Schluss jedoch unerwartet. Margaret hatte gedacht, es ginge um eine Würdigung der Menschen, die in Ausübung ihrer humanen Arbeit ihr Leben gelassen hatten. Aber die Fotos waren verwendet worden, um zu illustrieren, dass die Flying Doctors dringend mehr Flugüberwachung brauchten. Sie hörte schon Patricks zynischen Kommentar.
    Als sie in die Straße zum Krankenhaus einbog, fiel ihr ein, dass der Peugeot über und über mit Schlamm bespritzt war.
    Einen Monat nach dem Flugzeugabsturz (und Margaret sollte während ihrer

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