Das Erwachen: Dunkle Götter 1
antworten werde, doch nun war sie es, die zuerst das Wort ergriff. »Nein, nichts ist in Ordnung, aber dein Vater hat mich überzeugt, dass es an der Zeit ist, dir dies hier zu zeigen.« Auch sie betrachtete jetzt die Kiste.
»Hat das etwas mit meinen neuen Fähigkeiten zu tun?« Ich machte mir Sorgen, denn was auch immer in dem Behältnis stecken mochte, es hatte meine Mutter in einer Weise aufgeregt, wie ich es noch nie gesehen hatte. Was es auch war, es würde alles verändern.
»Na ja, in gewisser Weise«, erklärte mein Vater.
»Still, Royce! Sie hat es mir gegeben. Du hast vielleicht für uns alle entschieden, aber es liegt noch immer in meiner Verantwortung!« Mutter war in Tränen aufgelöst, doch nun sah sie mich fest an. »Mordecai, dies stammt von deiner Mutter. Von deiner richtigen Mutter. Sie hat es mir anvertraut, damit ich es dir gebe, wenn du älter bist und davon erfahren musst. Sie und ich, wir hatten gehofft, du würdest schon ganz erwachsen sein, ehe es so weit wäre.« Sie funkelte meinen Vater an, als wären ihm Hörner gewachsen.
»Was ist darin?«, fragte ich unsicher.
»Ein Brief, den sie dir geschrieben hat. Als du noch ein kleines Kind warst, hat sie ihn hier in diesem Raum aufgesetzt. Es war das Letzte, was sie getan hat, bevor sie starb. Er gehört dir.« Es klang, als ginge gleich die Welt unter.
Ich griff nach der Kiste, doch Vater legte seine Hand auf die meine. »Mein Junge, was du da drinnen findest, ist die Liebe einer Mutter zu dem Kind, das sie nicht selbst aufziehen konnte. Du wirst auch auf ihre Schmerzen treffen.« Er ließ meine Hand los und wandte den Blick ab. Ich hatte meinen Vater noch nie weinen sehen, aber nun waren seine Augen feucht geworden.
Ich hob den Holzdeckel, der an zwei zierlichen Scharnieren hing, die mein Vater offenbar selbst angefertigt hatte. Das Innere war mit Samt ausgeschlagen, und zuoberst lag ein ordentlich gefalteter Übermantel. Er war dunkelbraun mit goldenen Borten, und in der Mitte hatte man einen goldenen Falken eingearbeitet, der die Flügel ausbreitete. Später sollte ich lernen, dass man diese Haltung »auffliegend« nannte.
»Das ist der Wappenrock deiner Mutter«, erklärte Miri. »Sie war eine Tochter des Hauses Cameron.«
Ich nickte benommen, zog den Wappenrock heraus und entfaltete ihn. Dabei versuchte ich, mir die Frau vorzustellen, die ihn getragen hatte.
»Sie war groß«, erklärte Vater. »Beinahe so groß wie ich, und sie war stark. Sie hatte blonde Haare und blaue Augen. Solche Augen wie du, mein Sohn, auch wenn du die Haare wohl eher von deinem Vater hast.«
Unter dem Mantel lag ein zusammengefaltetes Stück Pergament. Ich nahm es vorsichtig an mich und öffnete den Brief. Dann las ich:
Mein Sohn,
es schmerzt mich, dass dies die einzigen Worte sind, die du je von mir empfangen wirst. Bitte glaube mir, wenn ich dir versichere, dass dein Vater und ich dich sehr geliebt und es dir oft gesagt haben, als du noch ein Baby warst. Ich vertraue dich Meredith Eldridge an, denn ich werde höchstens noch ein paar Tage leben. Sie ist eine gute Frau, und ich habe sie schätzen gelernt, als sie hier für mich gesorgt hat. Ich hoffe, du wächst behütet auf und wirst sie lieben, wie ich dich geliebt habe und immer noch liebe.
Ich bin Elena di’Cameron und war mit einem großen Mann verheiratet, deinem Vater. Er hieß Tyndal Ardeth’Illeniel und ist der letzte und beste Zauberer seines Geschlechts gewesen. Aufgrund deiner Abstammung wirst du möglicherweise seine Kräfte erben, doch er wird nicht da sein, um dich anzuleiten. Das Wissen, das er mit dir hätte teilen können, ist verloren, untergegangen in dem Brand, der die Burg Cameron, das Zuhause meiner Kindheit, vernichtet hat.
Das ganze Haus wurde vergiftet, die Mörder kamen in der Nacht. Wenn ich mich nicht irre, waren es die Kinder des Mal’goroth. Dies ist ein fanatischer Kult, der von einem Nachtgott besessen ist. Dein Vater und ich haben gekämpft, um dich in dieser Nacht zu beschützen, doch uns selbst konnten wir nicht mehr retten. Ich habe versagt. Durch einen Schwur war ich gebunden, deinen Vater zu beschützen, denn ich bin eine Anath’Meridum, eine der besonderen Hüterinnen, die den alten Magiern schon seit Generationen gedient haben. So habe ich ihn kennengelernt. Aber für unsere Liebe war eine einfache Bindung nicht genug, daher haben wir geheiratet. Die Frucht dieser Ehe bist du.
Auf Bitten deines Vaters brach ich meine Gelübde und verließ ihn in dieser
Weitere Kostenlose Bücher