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Das Eulenhaus

Das Eulenhaus

Titel: Das Eulenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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kindischen Lippen quoll, drang in tiefere Bewusstseinsbereiche vor. Ohne jeden Aufwand hielt sie die Konversation am Laufen. Modelle, die unbedingt reden wollten, war sie gewohnt. Es waren selten die professionellen Modelle – meistens waren es die Amateurinnen, die sich wegen der erzwungenen Bewegungslosigkeit unwohl fühlten und das mit Ausbrüchen redseliger Selbstentblößung ausglichen. Also hörte irgendein unbedeutender Teil von Henrietta zu und antwortete auch, während die wirkliche Henrietta irgendwo sehr fern dachte: Gewöhnliches, gemeines, gehässiges kleines Ding, du – aber was für Augen… wunderwunderwunderhübsche Augen…
    Solange sie an den Augen arbeitete, sollte das Ding doch schwätzen. Um Schweigen bitten würde sie sie, wenn sie zum Mund kam. Komisch, wenn man sich überlegte, dass so ein gehässiges Gepiepse aus einem so vollendet geschwungenen Mund kam.
    O verdammt!, dachte Henrietta plötzlich aufgebracht. Ich habe den Brauenschwung versaut! Was zum Teufel ist denn damit? Der Knochen ist falsch – er ist spitz, nicht dick…
    Sie trat einen Schritt zurück und sah stirnrunzelnd vom Tonkopf zu dem aus Fleisch und Blut.
    Doris Saunders plapperte weiter: »›Also‹, hab ich gesagt, ›ich wüsste wirklich nicht, warum mir Ihr Mann nicht etwas schenken sollte, wenn er das möchte, und ich finde‹, hab ich gesagt, ›derlei Unterstellungen stehen Ihnen nicht zu.‹ Das war doch ein zu und zu hübsches Armband, Miss Savernake, zu und zu entzückend – und natürlich, das muss ich wohl sagen, konnte der Kerl sich das eigentlich nicht leisten, aber ich finde es wirklich so nett von ihm, und ich dachte gar nicht dran, es zurückzugeben!«
    »Aber nein«, murmelte Henrietta.
    »Und das heißt nicht, dass da irgendwas war zwischen uns – also, irgendwas Schmutziges, mein ich – da war gar nichts.«
    »Nein, ganz bestimmt war da nichts, nie…«
    Die Brauenpartie wurde jetzt besser. Henrietta arbeitete die nächste halbe Stunde wie besessen. Tonklümpchen klebten ihr auf der Stirn und in den Haaren, weil sie sich ungeduldig über den Kopf strich. Ihre Augen waren fast blind vor lauter wildentschlossener Intensität. Es wurde langsam… Sie war nahe dran…
    Bald, in ein paar Stunden, würde die Agonie zu Ende sein – diese Agonie, die sich in den letzten zehn Tagen über ihr zusammengebraut hatte.
    Nausikaa – Nausikaa war sie gewesen, mit Nausikaa war sie morgens aufgestanden, mit Nausikaa hatte sie gefrühstückt, und mit Nausikaa war sie aus dem Haus gegangen. Sie war die Straßen im Zustand nervöser, reizbarer Rastlosigkeit entlanggehetzt, unfähig, ihre Gedanken auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als das wunderschöne blinde Gesicht irgendwo dicht hinter ihrem inneren Auge – dort schwebte es herum und war einfach nicht klar zu erkennen. Sie hatte mit Modellen gesprochen, sich griechische Gesichter angesehen, ein Gefühl tiefer Unzufriedenheit bekommen…
    Sie wollte etwas ganz dringend haben – etwas, mit dem sie anfangen konnte – etwas, das ihre eigene, schon teilweise entfaltete Vision zum Leben bringen konnte. Sie war endlos weit gelaufen, hatte sich dabei erschöpft und das genossen. Und was sie dabei getrieben und gepeinigt hatte, war die unablässige drängende Sehnsucht – zu s e hen…
    Ihre eigenen Augen wirkten blind, während sie herumlief. Sie sah nichts, was um sie war. Sie war krampfhaft in sich verknotet, um das Gesicht herbeizuzwingen… Sie fühlte sich krank, elend, ihr war übel…
    Und plötzlich hatte ihre Vision jäh Klarheit bekommen, mit normalen menschlichen Augen hatte sie sie gegenüber im Bus, in den sie gedankenlos und ohne das geringste Interesse am Fahrziel eingestiegen war, erblickt – sie hatte sie gesehen – ja, Nausikaa! Ein zu kurz geratenes kindliches Gesicht mit halb geöffneten Lippen und Augen – hübschen, leeren blinden Augen.
    Dann hatte die junge Frau die Klingelleine gezogen und war ausgestiegen. Henrietta war ihr nachgegangen.
    Sie war wieder ruhiger geworden, geschäftsmäßig. Sie hatte gefunden, was sie brauchte – die Agonie der vielleicht vergeblichen Suche war zu Ende.
    »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so anspreche. Ich bin Bildhauerin, und ich sage Ihnen ganz offen, Sie haben den Kopf, nach dem ich schon lange suche.« Sie war wieder freundlich und bezaubernd, so unwiderstehlich, wie sie sein konnte, wenn sie etwas wollte.
    Doris Saunders hatte skeptisch und argwöhnisch, aber auch geschmeichelt gewirkt. »Nun ja,

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