Das Exil Der Königin: Roman
von ihr getrennt gewesen. Ich dachte daran, den Blaujacken beizutreten, aber dafür braucht man heutzutage eine Ausbildung.« Sie zögerte, als würde sie überlegen, wie viel sie Raisa noch von sich verraten sollte. »Ich habe auch daran gedacht, mir einen erfolgreichen Streetlord zu suchen und einer Gang beizutreten. Aber wenn mir etwas passiert wäre, wäre Asha ganz allein gewesen. Ich sorge ja nicht nur für ihren Unterhalt, sondern auch für meine Mam und meinen Dad.«
Diese Leute müssen jeden Tag Entscheidungen treffen, bei denen sich einem der Magen umdreht, dachte Raisa. Und ich dachte immer, als normal arbeitender Mensch wäre das Leben einfach.
»Dann hat Redner Jemson vom Tempel in Southbridge mir erzählt, dass es so was wie die Dornenrosen-Stiftung gibt«, erzählte Hallie weiter. »Er meinte, er könnte mir Geld besorgen, sodass ich die Gebühr für Wien House bezahlen kann, wenn sie mich aufnehmen sollten.«
Die Dornenrosen-Stiftung! Raisa hob abrupt den Kopf. »Wirklich?« Sie griff spontan nach Hallies Händen. »Oh, das ist ja wundervoll!«
Hallie blinzelte Raisa an und legte den Kopf leicht schräg. »Nun ja. Also. Na ja, den Rest kannst du dir denken. Man hat mich aufgenommen, und hier bin ich. Und an jedem Tempeltag kaufe ich beim Blumenmädchen an der Brücke eine Rose und lege sie für Prinzessin Raisa auf den Altar. Und wenn ich wieder nach Hause komme, hoffe ich, dass ich ihrem Dienst zugeteilt werde. Dann könnte ich bei Asha sein und auf die Lady aufpassen.«
»Vielleicht wird das eines Tages so sein«, sagte Raisa und räusperte sich.
»Ja, vielleicht.« Hallie steckte das Bild von Asha wieder weg.
Im Unterricht beschäftigte Raisa sich mit Schlachtenstrategien, die Gideon Byrne Jahrhunderte zuvor entwickelt hatte. Lila Byrne hatte den Prototyp eines zweischneidigen Rapiers entwickelt, das heute noch benutzt wurde. Dwite Byrne hatte zu einer Zeit, da die Kavallerie immer weniger gebraucht wurde, berittene Soldaten auf völlig neue Weise eingesetzt.
Das hatten Raisa und Amon gemeinsam: Sie spürten beide den damit verbundenen Druck, dass sie jeweils die Erben einer uralten Dynastie waren, die vor Fähigkeiten und Errungenschaften nur so strotzte.
Amon konnte sehr geschickt mit Waffen umgehen und bot auch in seinen Facharbeiten gute Leistungen, aber er war weder der größte noch der stärkste noch der reichste Kadett seiner Klasse. Er gewann seine Klassenkameraden nicht für sich, indem er ihnen Bier und Apfelwein auf der Brückenstraße spendierte und dann Arm in Arm in den frühen Morgenstunden mit ihnen nach Hause torkelte.
Er strahlte eine innere Ruhe aus – als wüsste er ganz genau, wer er war und wohin er ging. Er war der Anker in einem Meer der Wechselhaftigkeit. Er war ehrlich und hielt sein Wort, und er war unerbittlich gerecht.
Ich kann von ihm lernen, dachte Raisa. Ich neige dazu, die Leute eher aufzuwühlen statt zu beruhigen.
Amon gab ihr weiter Unterricht mit dem Stock, nur dass sie jetzt den benutzte, den Dimitri ihr geschenkt hatte. An manchen Tagen war dieses Training alles, was sie von ihm sah – er verließ das Wohnheim, bevor sie aus dem Bett kroch, und sie schlief bereits fest, wenn er nach Hause kam. Als Befehlshaber seiner Klasse musste er an endlosen Besprechungen teilnehmen und war auch an der Leitung der Schule beteiligt. Hieß es zumindest. Raisa kam es allerdings immer noch so vor, als wollte er einfach vermeiden, mit ihr allein zu sein.
Aber manchmal, wenn sie aufsah, durchaus auch beim Essen, stellte sie fest, dass er sie mit seinen grauen Augen anstarrte.
»Ich dachte, dieses Odenford würde auch als Großer Gleichmacher bezeichnet werden«, sagte sie, als sie am Ende eines weiteren langen Tages ihr Buch zuklappte. Sie hatten acht Wochen des Semesters hinter sich, und es waren die ereignisreichsten und erschöpfendsten ihres ganzen Lebens gewesen.
Amon sah von der technischen Zeichnung auf, die er vor sich hatte. »Das stimmt.«
»Wieso hat Master Askell dann zugestimmt, uns alle in einem Wohnheim unterzubringen? Und wieso hat er ein besonderes Curriculum für mich zugelassen, wenn doch sonst alle gleich behandelt werden?«
»Das werden sie auch«, sagte Amon ruhig. »Bis auf ein paar Ausnahmen.« Er widmete sich wieder seiner Arbeit, bis die Schärfe ihres Blicks ihn veranlasste, wieder aufzusehen. Er lehnte sich zurück und rollte seine Feder zwischen den Fingern herum. Es war eine Angewohnheit von ihm geworden. »Master Askell weiß,
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