Das Exil Der Königin: Roman
und sie hatte sich Sorgen über ihre Mutter gemacht und davon gesprochen, nach Hause zurückzukehren. Vielleicht hatte sie sich entschieden und war weggegangen.
Aber hätte sie dann ihre Sachen zurückgelassen? Nein.
War es möglich, dass Byrne selbst für Rebeccas Verschwinden verantwortlich war und versuchte, von sich abzulenken und die Schuld jemand anderem zuzuschieben? Immerhin hatte er Han mit dem Schwert verjagt.
Nein. Han hätte nicht so lange überleben können, wenn er die Leute falsch einschätzte. Byrne war ein hoffnungslos schlechter Lügner, und er wirkte aufrichtig bestürzt.
Wie konnte Han Odenford verlassen, wenn Rebecca vermisst wurde?
Er bezahlte seine Rechnung beim Stall und veranlasste, dass Ragger und ein Ersatzpferd, Simon, neu beschlagen und später in der Woche aufbruchbereit sein würden. »Haltet die Box für mich frei«, sagte er. »Ich komme zurück.« Er wollte seine Spuren verwischen, für den Fall, dass jemand nachfragte. »Ich gehe nach Tamron Court, um dort einige Recherchen anzustellen.«
Der Pferdeknecht grunzte und machte unmissverständlich klar, dass ihn das herzlich wenig interessierte, und wahrscheinlich würde er sich auch nicht erinnern, wenn ihn jemand befragte.
Als Han zur Brücke zurückkehrte, begegnete er unterwegs etlichen Kadetten in ihren Schmutzfink-Uniformen und anderen in den Farben der Fakultätsgewänder – Leute von Wien House und Mystwerk House. Er sah Dekanin Abelard, die zusammen mit einer Gruppe von Mystwerk-Mastern und Versierten das Gelände der Bibliothek von Wien House untersuchte.
Aufgeregtes Gemurmel drang zu Han herüber. Während er weiter zusah, trugen zwei Heiler einen in eine Decke gewickelten Körper die Bibliothekstreppe herunter. Ein paar Hochschulwachen folgten ihnen.
Nein , dachte er, und das Herz stockte ihm beinahe in der Brust. Oh, nein.
Er schob sich an den Zuschauern vorbei, zog finstere Bemerkungen und Flüche hinter sich her, bis er an dem Gang stand, an dem die Heiler vorbeikamen. Er packte eine der weiblichen Hochschulwachen am Ärmel.
»Ma’am? Wer ist das? Wer ist tot?«
Die Hochschulwache riss ihren Arm zurück. »Lass los, Junge. Es wird einen Bericht geben.«
»Aber meine Freundin – sie wird vermisst«, sagte Han. »Seit gestern.«
Die Hochschulwache blieb so abrupt stehen, dass ihr Kamerad hinter ihr fast in sie hineingelaufen wäre. Sie trat beiseite und zog Han am Arm mit sich. »Wie heißt deine Freundin?«
»Rebecca Morley.«
»Komm mit.« Die Wache schob Han zurück zur Bibliothek. Als er an Abelard vorbeikam, sah diese auf und heftete einen durchdringenden Blick auf ihn.
Sie gingen durch die schwere Doppeltür und stiegen die Treppe hoch. Während sie sich immer weiter nach oben schraubten, wurde Hans Herz schwerer und schwerer.
Schließlich kamen sie oben an der Treppe an und bahnten sich ihren Weg durch ein Gewirr von kleinen Leseräumen hindurch. Die Tür zu einem der Zimmer stand einen Spalt auf.
»Da rein«, sagte die Wache.
Han blieb gleich im Türrahmen stehen; ihm war übel vor Furcht. Das Zimmer war klein, mit einem Tisch unter einem Fenster an der einen Wand und einem Kamin an der anderen. Es gab einen Werktisch mit Blick auf die Tür. Bücher und Zettel lagen auf der Tischplatte. Eine zerstörte Lampe lag auf dem Boden, und Glassplitter glitzerten im Sonnenlicht, das durch das Fenster hereinfiel. Blutspritzer waren auf dem Holzboden zwischen der Tür und dem Tisch zu sehen.
Ein stämmiger Mann in der Kleidung des Masters von Wien House stand da und starrte aus dem Fenster.
»Master Askell«, sagte die Hochschulwache. »Dieser Junge sagt, er wäre mit Rebecca Morley befreundet gewesen.«
Master Askell drehte sich zu Han um; sein breites, wettergegerbtes Gesicht wirkte vollkommen ungerührt. Er musterte Hans Kleidung und das Amulett an seinem Hals. »Wer seid Ihr?«, fragte er ohne irgendwelche einleitenden Worte.
»Han Alister. Neuling in Mystwerk House«, antwortete Han.
»Woher kennt Ihr Rebecca?«
»Sie hat mich unterrichtet. Aber wir kennen uns schon von zu Hause.«
Askell deutete auf den Arbeitstisch. »Seht nach, ob die Sachen auf dem Tisch Rebecca gehören.«
Sand und Glas knirschten unter Hans Stiefeln. Auf dem Tisch befanden sich Seiten, auf denen Notizen in Rebeccas vertrauter, schräger Handschrift standen. Er fand ihre hübsche Feder und das emaillierte Tintenfässchen.
Han schloss die Augen und schluckte schwer. Beim Blute und den Gebeinen, dachte er. Bei den
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