Das Exil Der Königin: Roman
ACHT
Odenford
D ie Grauwölfe brauchten mehr als eine Woche, um die Grenze des Königreichs Tamron zu erreichen. Die sich wie Spinnennetze erstreckenden Wasserwege der Fens verbanden sich schließlich zu dem breiten und trägen Fluss Tamron. Auf seinem Weg Richtung Süden floss er um Inseln und Sandbänke herum, als würde er sich gar nicht darum scheren, ob er jemals dort ankam, wohin er unterwegs war.
Wasserläufer bewegten sich auf Flößen und Flachbooten in beide Richtungen des Flusses, da es keine nennenswerte Strömung gab, gegen die sie mit ihren Stöcken hätten ankämpfen müssen. Die Wölfe reisten überwiegend nachts und hielten sich vom Flussufer fern, und um die Dörfer der Wasserläufer schlugen sie große Bögen. Nach dem, was sie in Rivertown gesehen hatten, wussten sie nicht, wie man sie empfangen würde.
Irgendwann eines Nachts, der Mond war wolkenverhangen, schlüpften sie über die Grenze. Allerdings hätten sie sich keine Sorgen machen müssen. Der Bergfried, der finster auf die Flussstraße von Tamron herunterstarrte, war verlassen – er wurde nur von ein paar wild lebenden Katzen und Scharen von Mäusen bewohnt, die freundschaftlich zusammenlebten. Der Stallhof war mit Brombeeren und Gras zugewuchert, und ein Teil des Mauerwerks war von Plünderern ausgeschlachtet worden.
»Tamron muss seine Armeen nach Süden und Osten geschickt haben, um die Grenze nach Arden zu verstärken«, sagte Amon und trat gegen einen verrosteten Eimer, der im Unkraut lag. »Scheint so, als würden sie sich nicht allzu viele Sorgen um die Wasserläufer hier unten machen.«
Sie schliefen in dieser Nacht im Schutz der Burgruine. Amon brachte Raisa in einer Ecke unter, die einmal ein Teil einer Offiziersmesse gewesen sein musste, und ließ sich selbst mit seiner Bettrolle gleich neben der Tür nieder. Die anderen Wölfe fanden irgendwo im Hof ein Plätzchen zum Schlafen.
Raisa konnte die Sterne durch die Lücken des teilweise verrotteten Holzdachs sehen. Nach den Erlebnissen in den Fens tat es gut, einigermaßen stabile Wände um sich zu haben, aber trotzdem fand sie keinen Schlaf. Sie warf sich unruhig hin und her und fragte sich erneut, ob es richtig gewesen war, dass sie die Fells verlassen hatte. Heimweh ballte sich wie ein kalter Stein unter ihrem Brustbein.
Die Berge riefen sie, all die toten Königinnen in ihren steinernen Gräbern. Raisa , flüsterten sie, Raisa ana’ Marianna ana ’Lissa und all die anderen anas bis zurück zu Hanalea. Komm nach Hause.
Ich weigere mich, an der erneuten Versklavung des Grauwolf-Geschlechts mitzuarbeiten, dachte sie.
Schließlich stand sie auf und ging zur Tür, wo sie auf Amon Byrne hinabblickte, der in seiner Decke eingewickelt dalag. Er rollte sich auf den Rücken und öffnete die Augen.
»Was ist los?«, flüsterte er. »Wieso bist du auf?«
»Wieso kann ich mich nie an dich heranschleichen?«, wollte sie wissen.
Amon setzte sich auf und rieb sich mit den Handballen über die Augen. »Wieso versuchst du es nicht bei Tageslicht?«
Raisa schnaubte. »Wenn ich es nicht mal kann, wenn du fest schläfst, wie soll es dann wohl klappen, wenn du wach bist?«
»Ich wollte damit nur sagen, dass es bei Tageslicht angenehmer wäre.« Er gähnte.
Oh. Richtig. Raisa steckte die Hände in die Taschen. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken. Ich kann nur einfach nicht schlafen.« Sie starrte auf ihre Füße, die in dicken Wollsocken steckten, was bei diesem seltsamen südlichen Klima kaum mehr nötig war.
»Hmmm.« Er fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. »Hier. Setz dich«, sagte er und klopfte auf eine Steinbank gleich neben der Tür. Raisa setzte sich hin. Er schob die Decke weg und ließ sich, nur mit seiner Hose bekleidet, neben ihr nieder.
Sie nahm seine Hand in ihre Hände und ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken. Dann fuhr sie mit dem Zeigefinger die Venen seines Handrückens nach. Er hatte große Finger, die lang und stumpf und tüchtig waren. Sie liebte seine Hände.
Eine Stimme flüsterte in ihrem Kopf. Ich werde mich für den Rest meines Lebens an Amon Byrne anlehnen.
Nach einem kurzen Schweigen sagte er: »Falls es irgendwie nützt … ich glaube, dass du die richtige Entscheidung gefällt hast. Die Fells zu verlassen, meine ich.«
Raisa blinzelte zu ihm hoch. »Woher wusstest du, dass mich das beschäftigt?«
»Gut geraten«, antwortete Amon, sah zur Seite und zuckte mit den Schultern. »Du gehörst nicht zu denen, die vor einem
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