Das Experiment
den Koffer zumarschiert bin, in dem Elizabeths Tagebuch lag. Ich hatte gerade das Portrait aufgehängt, als ich mich plötzlich von einem starken inneren Drang in die Burg gezogen fühlte. Und dort brauchte ich gar nicht mehr zu suchen. Das Tagebuch lag gleich im ersten Koffer, den ich geöffnet habe.«
»Es gibt Leute, die spüren schon die Kraft des Übernatürlichen, bloß weil sie in Salem sind«, sagte Edward und lachte über seinen eigenen Spruch. »Das hat wohl mit den alten Hexengeschichten zu tun. Wenn du glauben willst, daß du von einer mystischen Kraft in die Burg geführt wurdest, dann tu es. Verlang aber bitte nicht von mir, daß ich auch daran glaube.«
»Und wie erklärst du dir dann, was mir passiert ist?« fragte Kim. Sie kam jetzt richtig in Fahrt. »Ich hatte schon mehr als dreißig Stunden in den alten Papieren gekramt und nichts gefunden. Nichts aus dem siebzehnten Jahrhundert – und schon gar nicht so etwas Interessantes wie Elizabeths Tagebuch. Und dann mache ich plötzlich zielstrebig diesen Überseekoffer auf.«
»Ist ja gut«, versuchte Edward sie zu bremsen. »Ich will es dir ja gar nicht ausreden. Nun beruhige dich erst mal.«
»Entschuldige«, sagte Kim. »Eigentlich wollte ich dich gar nicht mit meinen Spinnereien belästigen. Ich bin ja nur gekommen, um dir zu sagen, daß ich dich vermisse.«
Nach einem ausgedehnten Gutenachtkuß ließ sie Edward mit seinen Laborentwürfen allein und verließ sein Zimmer. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, verharrte sie noch einen Moment lang unschlüssig im Mondlicht, das durch das kleine Badezimmerfenster fiel. Von hier aus konnte sie in der Ferne die Burg erkennen, deren gewaltige, schwarze Silhouette sich bedrohlich vom Nachthimmel abhob. Die Kulisse erinnerte sie an die alten Dracula-Filme, bei denen sie sich als Teenager immer so gefürchtet hatte.
Sie stieg die dunkle Wendeltreppe hinab und bahnte sich ihren Weg durch die unzähligen leere Kisten, die in der Eingangshalle herumstanden. Sie ging ins Wohnzimmer und betrachtete noch einmal das Portrait ihrer Vorfahrin. Selbst im Dunkeln konnte sie das strahlende Leuchten von Elizabeths Augen erkennen; es war so, als ob sie von innen her leuchteten.
»Was versuchst du mir nur mitzuteilen?« flüsterte sie in die Dunkelheit. Ihr war inzwischen klar, daß sie die Botschaft nicht in dem Tagebuch finden würde.
Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr; nur mit Mühe konnte sie einen Schrei unterdrücken. Instinktiv hob sie die Arme, um sich zu schützen, doch nach ein paar Schrecksekunden ließ sie sie langsam wieder sinken. Sheba war auf den Tisch gesprungen.
Kim mußte sich für einen Moment setzen. Es war ihr regelrecht peinlich, wie schreckhaft sie war. Offenbar waren ihre Nerven wirklich bis zum äußersten gespannt.
Kapitel 11
Anfang September 1994
Das Labor wurde in der ersten Septemberwoche fertig, mit Reagenzien versorgt und eröffnet. Kim war zufrieden. Obwohl sie Urlaub hatte und daher an Ort und Stelle für Hunderte von Lieferungen die Empfangsquittungen hatte unterschreiben können, war sie doch froh, jetzt abgelöst zu werden. Diese Ablösung war Eleanor Youngman.
Eleanor war die erste Angestellte, die offiziell in dem Labor die Arbeit aufnahm. Sie hatte schon einige Wochen früher in Harvard mitgeteilt, daß sie ihre nach der Promotion angetretene Stellung aufgeben würde, hatte aber doch beinahe zwei Wochen gebraucht, um alle Arbeiten abzuschließen und nach Salem zu ziehen.
Kims Verhältnis zu Eleanor verbesserte sich aber keineswegs drastisch. Es war freundlich, aber irgendwie steif. Kim verspürte bei Eleanor eine gewisse Animosität, die auf Eifersucht zurückzuführen war. Sie hatte gleich bei der ersten Begegnung gespürt, daß die Hochachtung, die Eleanor Edward entgegenbrachte, auch den unausgesprochenen Wunsch nach einer persönlichen Beziehung enthielt. Daß Edward dafür blind war, verblüffte Kim. Zugleich beunruhigte sie es ein wenig, wenn sie daran dachte, wie oft ihr Vater mit sogenannten Assistentinnen Verhältnisse angefangen hatte.
Als nächstes trafen die Versuchstiere im Labor ein. Sie kamen mitten in der Woche zu nachtschlafender Zeit. Edward und Eleanor überwachten das Ausladen der Menagerie und sorgten dafür, daß die Tiere in die jeweiligen Käfige gebracht wurden. Kim sah dem ganzen Geschehen vom Fenster ihres Cottage zu. Viel von dem, was vorging, konnte sie nicht erkennen, aber das machte ihr nichts
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