Das Experiment
Anfälle aufhören mögen, bevor meine Lebenskraft am Ende ist.
Kim schloß die Augen und atmete tief durch. Sie war überwältigt. Jetzt kam es ihr wirklich so vor, als spräche Elizabeth zu ihr. Trotz der Qualen, unter denen sie gelitten haben mußte, als sie das Tagebuch geschrieben hatte, war deutlich zu erkennen, welch starker Charakter und was für eine Persönlichkeit Elizabeth gewesenwar: Sie war fürsorglich, energisch, großzügig, zielstrebig und mutig gewesen. All diese Wesenszüge hätte Kim auch gerne in sich vereint.
Aufmerksam las sie alles noch einmal durch. Erst jetzt wurde ihr die eigentliche Tragik bewußt: Vielleicht hatte Elizabeth durch ihre Großzügigkeit für die schnelle Verbreitung des giftigen Schimmelpilzes gesorgt. Mußte Elizabeth sterben, weil man ihr die Verbreitung des giftigen Pilzes vorgeworfen hatte?
Kim starrte eine Weile aus dem Fenster und dachte über diesen neuen Aspekt nach. Doch sosehr sie sich auch den Kopf zermarterte – ihr fiel nicht ein, wie man Elizabeth für eine Schimmelpilzepidemie hätte verantwortlich machen können. Damals hatte man die Anfälle bestimmt nicht mit dem giftigen Pilz in Verbindung gebracht.
Ratlos wandte sie sich wieder dem Tagebuch zu. Vorsichtig blätterte sie die Seiten um und überflog die weiteren Eintragungen. An den meisten Tagen hatte Elizabeth nur wenige Sätze geschrieben, die aber immer eine knappe Beschreibung des Wetters enthielten.
Kim schlug das Buch noch einmal von vorne auf. Der erste Eintrag datierte vom 5. Dezember 1678; damals war Elizabeths Handschrift noch größer und ungelenker gewesen als vierzehn Jahre später. 1678 war Elizabeth dreizehn Jahre alt gewesen; an jenem Dezembertag, so hatte sie festgehalten, war es eiskalt gewesen und hatte unentwegt geschneit. Kim klappte das Buch wieder zu. Sie war überglücklich, daß sie die alte Kladde gefunden hatte. Sie drückte sie sich wie einen wertvollen Schatz an die Brust und ging zurück zum Cottage. Dort zog sie sich einen Stuhl und einen Tisch in die Mitte des Zimmers und setzte sich. Sie las fasziniert und warf zwischendurch immer wieder einen Blick auf das Portrait. Eine längere Eintragung war auf den 7. Januar 1682 datiert.
Es war ein bewölkter und für die Jahreszeit recht warmer Tag gewesen. Elizabeth schrieb, daß sie an jenem Tag Ronald Stewart geheiratet hatte. Ausführlich schilderte sie das edle Gespann, mit dem sie von Salem Town in ihr neues Zuhause gebracht worden war. Wie Elizabeth ausführte, war es für sie eine riesige Freude und Überraschung gewesen, in ein so schönes Haus ziehen zu dürfen.
Kim lächelte. Während sie die ausführlichen Beschreibungender einzelnen Räume und der Einrichtung überflog, rief sie sich in Erinnerung, daß alle Empfindungen, die Elizabeth hier zu Papier gebracht hatte, sich auf dasselbe Haus bezogen, in dem auch für sie selbst ein neuer Lebensabschnitt beginnen sollte. Wenn das kein Zufall war, daß sie das Buch ausgerechnet an ihrem Einzugstag gefunden hatte! Die dreihundert Jahre, die sie von Elizabeth trennten, kamen ihr plötzlich sehr kurz vor.
Als sie weiterblätterte, erfuhr sie, daß Elizabeth schon ein paar Monate nach der Hochzeit schwanger geworden war. Kim seufzte. Was hätte sie in dem Alter – Elizabeth war ja erst siebzehn –, mit einem Kind angefangen? Ihr grauste bei der bloßen Vorstellung, doch Elizabeth war offenbar erstaunlich gut damit zurechtgekommen.
Kim blätterte wieder ein bißchen zurück, bis sie auf einen Eintrag stieß, der ihr besonders interessant erschien. Er war etwas länger als die anderen und datierte vom 10. Oktober 1681. Wie Elizabeth festgehalten hatte, war es ein heißer und sonniger Tag gewesen; ihr Vater war mit einem Heiratsantrag aus Salem Town zurückgekehrt. Weiter hieß es:
Zuerst war ich ziemlich besorgt wegen dieser seltsamen Angelegenheit, denn ich weiß ja gar nichts über diesen Gentleman. Immerhin redet mein Vater gut über ihn. Vater sagt, ich sei dem Gentleman im September aufgefallen, als er unsere Ländereien besucht hat, um Holz für die Masten und Spiere seiner Schiffe zu beschaffen. Mein Vater sagt, er wolle mir die Entscheidung überlassen, aber ich solle wissen, daß der Gentleman ein äußerst gnädiges Angebot unterbreitet habe: Er wolle unsere ganze Familie nach Salem Town umsiedeln, meinem Vater Arbeit in seiner Firma geben und meine geliebte Schwester Rebecca auf eine Schule schicken.
Ein paar Seiten weiter schrieb
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