Das Experiment
vollgestellt.
»Entschuldigen Sie die Unordnung, die hier unten herrscht«, meinte Nebolsine. »Es ist sehr schmutzig. Hier kommt nicht oft jemand her.«
Kim folgte dem Mann, der zielstrebig zwischen den Glasschränken hindurchging, in denen Kim eine Unzahl von Knochen, Büchern, Instrumenten und Gläsern mit allen möglichen Organen sah. Dann blieb Nebolsine stehen, trat etwas zur Seite und deutete auf etwas in dem Glasschrank vor ihm.
Kim fuhr zurück. In ihr mischten sich Abscheu und Schrecken. Sie war überhaupt nicht auf das vorbereitet, was sie hier zu sehen bekam. In einem großen Glas, das mit einer bräunlichen Konservierungsflüssigkeit gefüllt war, war ein vier bis fünf Monate alter Fötus eingezwängt, der wie ein Monster aussah.
Nebolsine schien Kims Reaktion überhaupt nicht wahrzunehmen. Er öffnete den Glasschrank, griff hinein und holte das schwere Gefäß heraus, wobei der Inhalt in grotesker Weise auf und ab hüpfte und kleine Gewebeteilchen wie Schnee in einem Briefbeschwerer herunterregneten.
Kim griff sich mit der Hand an den Mund, während sie den anenzephalischen Fötus anstarrte. Er hatte einen Wolfsrachen, wodurch der Eindruck entstand, der Mund reiche bis zur Nase hinauf. Da das Gesicht gegen das Glas gepreßt war, waren die Züge zusätzlich verzerrt. Hinter den relativ großen, froschähnlichen Augen war der Kopf flach und mit kohlschwarzem Haar bedeckt. Das massive Kinn stand in keinem Verhältnis zu dem Rest des Gesichts. Die oberen Stummelgliedmaßen des Fötus endeten in schaufelartigen Händen mit kurzen Fingern, die teilweise zusammengewachsen waren; man mußte unwillkürlich an gespaltene Hufe denken. Der Rumpf ging in einen langen fischähnlichen Schwanz über.
»Soll ich es näher ans Licht tragen?« fragte Nebolsine.
»Nein!« erwiderte Kim eine Spur zu schroff und beeilte sich, mit etwas ruhigerer Stimme hinzuzufügen, daß sie das Exponat hier gut sehen könne.
Kim konnte sich gut vorstellen, was ein Mensch des siebzehnten Jahrhunderts in einer solchen Monstrosität gesehen haben mußte: den leibhaftigen Teufel. Tatsächlich waren Holzschnitte des Teufels, die Kim aus jener Epoche gesehen hatte, praktisch Kopien dieses Monsters.
»Soll ich es umdrehen, damit Sie auch die andere Seite sehen können?« fragte Nebolsine.
»Vielen Dank, nein«, sagte Kim und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Jetzt begriff sie, weshalb weder die juristische noch die theologische Fakultät gewußt hatten, was sie damit anfangen sollten. Und dann erinnerte sie sich an die Notiz, die John Moldavian ihr in der medizinischen Bibliothek gezeigt hatte. Siehatte nicht gelautet: Kuriosität von Rachel Bingham, erhalten von Rachel Bingham im Jahre 1691, vielmehr war das fünfte Wort empfangen gewesen.
Und Kim erinnerte sich auch an die Eintragung in Elizabeths Tagebuch, wo diese ihre Sorge wegen des unschuldigen Hiob ausgedrückt hatte. Hiob war kein biblischer Hinweis gewesen. Elizabeth hatte bereits gewußt, daß sie schwanger war, und hatte dem Baby den Namen Hiob gegeben. Welche Ironie des Schicksals, dachte Kim.
Sie bedankte sich bei Nebolsine und kehrte mit schweren Schritten zu ihrem Wagen zurück. Ihre Gedanken befaßten sich mit Elizabeths doppelter Tragödie: einer Schwangerschaft, während sie, ohne es zu wissen, eine Schimmelpilzvergiftung hatte. In jener Zeit wäre jeder überzeugt gewesen, daß Elizabeth sich mit dem Teufel eingelassen haben mußte, um ein solches Monstrum hervorzubringen. Niemand hätte daran gezweifelt, daß sich darin ein Pakt mit dem Teufel manifestiert hatte, ganz besonders, da die »Anfälle« in Elizabeths Haus ihren Anfang genommen hatten: Elizabeths selbstbewußtes Auftreten, ihre Auseinandersetzung mit der Putnam-Familie zum ungünstigsten Zeitpunkt und die Veränderung ihres gesellschaftlichen Status hatten die Situation nicht gerade verbessert.
Für Kim stand jetzt eindeutig fest, weshalb man Elizabeth den Prozeß als Hexe gemacht hatte und wie es zu dem Schuldspruch gekommen war.
Kim fuhr wie in Trance. Allmählich begriff sie, weshalb Elizabeth kein Geständnis abgelegt hatte, um damit ihr Leben zu retten, wie Ronald das nachdrücklich von ihr verlangt hatte. Elizabeth wußte, daß sie keine Hexe war, aber ihr eigenes Vertrauen in ihre Unschuld war ohne Zweifel dadurch erschüttert, daß alle sich gegen sie stellten: Freunde, Gerichtsbeamte und selbst die Priester. In Abwesenheit ihres Mannes hatte Elizabeth nirgends Unterstützung
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